Macrons Reformziel ist jetzt in großer Gefahr
Präsident Emmanuel Macron ist zur Zielscheibe eines Zorns geworden, der sich jahrzehntelang aufgestaut hat.
Diesen Auftritt vor der französischen Nation könnten die Kommunikationsberater von Emmanuel Macron inszeniert haben. Der Präsident, der bisher wie ein Monarch regiert und wie ein Manager geredet hat, zeigt jetzt Empathie für die Normalbürger. Der Präsident, der sich angesichts der neuen Protestwelle wochenlang in Schweigen gehüllt hat, spricht jetzt von einer großen und gerechtfertigten Wut im Land.
Es ist eine Umkehr, in der Rhetorik und politisch. Aber ungewiss ist, ob sie genügt, um die aufgeheizten Gemüter zu beruhigen. Macron will offenbar einen Balanceakt schaffen: Seine Zugeständnisse sollen den ärgsten Ärger der „Gelbwesten“dämpfen und einen größeren Teil der Öffentlichkeit wieder auf seine Seite ziehen. Der Präsident macht Abstriche von seinem politischen Programm, aber er hält an seinem Reformziel fest, Frankreich für den Wettbewerb auf einem globalisierten Markt neu aufzustellen.
Typisch ist dafür dieses Detail: Macrons Maßnahmen sollen die Kaufkraft der unteren Mittelschicht steigern, die seit langer Zeit unter hohen Steuern und Sozialabgaben ächzt. Doch für den künftig höheren Mindestlohn soll der Staat mit einem Zuschuss aufkommen. Er will die Wirtschaftstreibenden schonen und macht darum neue Schulden.
Mit dieser sozialpolitischen Wende ist nur ein Teil der heterogenen Protestbewegung zufrieden. Ein anderer Teil will mehr und fordert insbesondere, dass der Präsident die Abschaffung der Reichensteuer – das Symbolthema schlechthin – revidiert. Zu vage erscheint diesen Demonstranten das vom Präsidenten skizzierte Szenario, dass auch die Wohlhabenden zum sozialen Frieden beitragen müssten.
Frankreichs EU-Partner hoffen, dass es Macron gelingt, das blockierte Land in Bewegung zu bringen. Doch die Gefahr ist gewachsen, dass auch dieser Präsident wie viele seiner Vorgänger vor dem Unmut auf der Straße zurückweichen muss. Macron ist weiterhin entschlossen, seine großen Reformvorhaben wie den Umbau des Sozialsystems oder die Reduzierung des Staatsapparats umzusetzen. Aber seine politische Konkurrenz, von ganz links bis ganz rechts, lauert darauf, dass der Protest noch wochenlang weitergeht.
Macrons Gefolgsleute haben zwar eine große Mehrheit im Parlament. Aber mit ihrem Profil (wohlhabend und überaus gebildet) sind sie kein Abbild der Gesamtbevölkerung. Fast zu befürchten ist deshalb, dass der Aufstand der Deklassierten gegen die Privilegierten, der Provinz gegen Paris nicht so schnell zu Ende sein wird.