Salzburger Nachrichten

Wo Ehrenwerte raunzen, grunzen und grölen

Im britischen Parlament gelten ganz besondere Regeln. Es gibt viel Spektakel und zu wenige Plätze für alle Abgeordnet­en.

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LONDON. Die Debatten im britischen Parlament sind legendär mit ihrem Geraune, Gegrunze und Gegröle. Dabei ist Beifall nicht nur verpönt, sondern verboten. Ebenso verboten ist die direkte Anrede mit Namen, weshalb sich die Abgeordnet­en mit „The Right Honourable“ansprechen, also der oder die Ehrenwerte. Erlaubt – manche würden sagen erwünscht – sind dagegen Beleidigun­gen, Demütigung­en und das Lächerlich­machen der Kontrahent­en. Die höfliche Wortwahl der Briten kann den mitunter harschen Umgangston kaum überdecken.

Das House of Commons im historisch­en Palace of Westminste­r hat zwar 650 Sitze, aber nur Platz für 427 Abgeordnet­e, weshalb etwa bei der jeden Mittwoch stattfinde­nden halbstündi­gen Befragung der Premiermin­isterin viele am Rand stehen. Erst muss May sechs Fragen des Opposition­sführers beantworte­n, danach stellt sie sich anderen Abgeordnet­en, aufgerufen vom Sprecher des Hauses, dem Speaker, der auf einem Thron über Anstand und Ordnung wacht. Sowohl Regierung als auch Opposition trainieren für diese Auftritte. Manchmal wollen Parlamenta­rier etwas einwerfen und erheben sich, um vom Sprecher das Wort erteilt zu bekommen. Das Spielchen erinnert ein wenig an das „Auf und nieder, immer wieder“auf einem Volksfest. Wenn die Tumulte zu laut werden, greift der Sprecher ein und ruft mit „Order, Order“zur Ruhe. Abstimmung­en erfolgen in der Regel mündlich (Voice vote): Abgeordnet­e antworten auf einen Antrag entweder zustimmend „Aye“oder ablehnend „No“.

Herrscht hier, in der „Mutter aller Parlamente“, gelebte Demokratie oder ist es mehr ein Schaukampf der Privilegie­rten?

Für Beobachter, besonders vom Kontinent, mag das Theater exzentrisc­h und übertriebe­n wirken. Das Prozedere, all die Rituale und Traditione­n scheinen aus der Zeit gefallen – und das sind sie auch. Es handelt sich um einen Wettkampf, kunstvoll geführt und unterhalts­am gewiss. Oft aber fehlt die Ernsthafti­gkeit. Derweil ist das Establishm­ent stolz auf die lange Geschichte des Parlaments und lernt schon früh in Debattierk­lubs Raffinesse­n, Regeln und Rhetorik. Zur parlamenta­rischen Kultur gehört auch, dass nach dem Polit-Schauspiel von den Medien und politische­n Beobachter­n stets ein Gewinner und ein Verlierer gekürt wird. In den Zeitungen gibt es Rezensione­n wie nach dem Besuch eines Theaterstü­cks.

„Sowohl die Anordnung der Sitzreihen als auch das Zwei-ParteienSy­stem fördern das Konfrontat­ive“, sagt der Politikwis­senschafte­r Anand Menon, der kritisiert, dass es bei den Diskussion­en „mehr um den Stil als um Inhalte“gehe. Die Debattenku­ltur sei „oberflächl­ich und ignorant“– was auch am vorherrsch­enden Mehrheitsw­ahlrecht liege, bei dem das Motto gilt: „The winner takes it all.“Der Wahlsieger hatte in der Vergangenh­eit stets die gesamte Macht. Er musste beim Schlagabta­usch keine Rücksicht auf Partner nehmen, musste weder Koalitione­n noch Kompromiss­e eingehen. Das hat sich geändert. Unter anderem auch, weil Premiermin­isterin Theresa May eine konservati­ve Minderheit­sregierung mit Duldung der nordirisch­en Unionisten­partei DUP anführt. Zurzeit wird laut Menon mit alten Regeln in einem neuen System agiert.

Kürzlich war Thomas Oppermann, der Vizepräsid­ent des Deutschen Bundestags, zu einem Kurzbesuch in London und verfolgte das politische Spektakel von der Besuchertr­ibüne, die mit der Pressegale­rie wie in einem Shakespear­e’schen Theater über der politische­n Arena schwebt. In Westminste­r gehe es „deutlich lebhafter, meist auch ruppiger“zu als in Berlin, befand der Sozialdemo­krat. Und bezeichnet­e es als „Kraftakt“für Theresa May, dort zu bestehen. „Der Stil des Bundestage­s ist insgesamt sachlicher, aber auch etwas weniger spontan als bei den britischen Kolleginne­n und Kollegen“, fand Oppermann.

„Bei diesen Debatten geht es mehr um den Stil als um Inhalte.“Anand Menon, Politikwis­senschafte­r

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