Vom Vorgesetzten zum Coach seiner Mannschaft
Die Anforderungen an Chefinnen und Chefs haben sich radikal verändert. Sie sollten das Unfertige lieben und auch den Nervenkitzel.
In den alten Kathedralen der Macht hatten die Chefs ein eigenes Stockwerk. Jedenfalls große Flächen, breite Fensterfronten, ein Vorzimmer mit effektiver Störungsabwehr, einen ihnen eigenen Habitus der Allwissenheit sowie Unantastbarkeit, damit verbunden Ruhe (vor dem allgemeinen Volk) und natürlich eine schwere Limousine unten auf dem Firmenparkplatz.
In den heute erfolgreichen Unternehmen des digitalen Zeitalters erkennt man die Chefs häufig nicht mehr an den äußeren Zeichen. Es ist ziemlich egal, ob er oder sie mit dem Fahrrad, einem Elektroroller oder im Tesla in die Arbeit kommt und wie repräsentativ der Schreibtisch ist. Zum Hofhalten hat er oder sie ohnehin keine Zeit. Die Heldenverehrung alten Zuschnitts funktioniert nicht mehr, wenn sich Unternehmen alle paar Monate bis Jahre neu erfinden müssen.
Was heißt dann eigentlich vorgesetzt? Wer ein Unternehmen voranbringen will, kann heute nicht mehr Befehle brüllen, sondern muss das Hirnschmalz der gesamten Mannschaft aktivieren, um gemeinsam die richtigen Entscheidungen zu treffen. Genau genommen sind die heutigen Chefs Nebengesetzte. Das heißt nicht, dass der oder die Betreffende neben dem Stuhl, sondern gleichgestellt neben seinen Mitarbeitern sitzen sollte. Doch weil Sitzen angesichts des Tempos der Veränderung kein passendes Bild mehr ist, muss man eher davon sprechen, dass Chefinnen und Chefs ihren Mitarbeitern zur Seite gestellt sind und sie bestmöglich begleiten sollten. (Mitläufer wäre im Hinblick auf die Bewegung ein treffender Begriff, er passt aber nicht zur großen Verantwortung.) Es mag zu bescheiden klingen, aber es stimmt: Chefs sind dazu da, Mitarbeiter zu unterstützen und ihnen Hürden aus dem Weg zu räumen. Denn es geht nur noch gemeinsam: Der große Chef allein ist ein armes Würstchen, wenn er sich nicht als Moderator und Coach einer Mannschaft bewährt, in dessen Umfeld das pure Chaos herrscht.
Chaos. Wie will man sonst die Umbrüche nennen, die quer durch die Wirtschaft zu spüren sind? Wer da noch von „wohlgeordneten Häusern“spricht, hat die neue Welt nicht verstanden. „Trotz Umbau geöffnet“, so lautet inzwischen der Dauerzustand der Unternehmen. Experimente, Innovation, Zusammenarbeit quer über die Abteilungen, um sich eine neue Zukunft zu sichern: Nur wer das Chaos und Unfertige liebt, taugt zur guten Führungskraft.
Dann wäre da noch der Umgang mit dem Risiko: Wenn kein Projekt scheitern darf und Schwieriges von Mitarbeitern hemmungslos geschönt werden muss, bevor man dem Chef davon berichten kann, sollte man sich tatsächlich einen neuen suchen. Einen Chef oder noch besser eine Chefin neuen Zuschnitts.
Gertraud Leimüller leitet ein Unternehmen für Innovationsberatung in Wien und ist stv. Vorsitzende der creativ wirtschaft austria.
SN.AT/GEWAGTGEWONNEN