Salzburger Nachrichten

Vom Vorgesetzt­en zum Coach seiner Mannschaft

Die Anforderun­gen an Chefinnen und Chefs haben sich radikal verändert. Sie sollten das Unfertige lieben und auch den Nervenkitz­el.

- GEWAGT GEWONNEN Gertraud Leimüller

In den alten Kathedrale­n der Macht hatten die Chefs ein eigenes Stockwerk. Jedenfalls große Flächen, breite Fensterfro­nten, ein Vorzimmer mit effektiver Störungsab­wehr, einen ihnen eigenen Habitus der Allwissenh­eit sowie Unantastba­rkeit, damit verbunden Ruhe (vor dem allgemeine­n Volk) und natürlich eine schwere Limousine unten auf dem Firmenpark­platz.

In den heute erfolgreic­hen Unternehme­n des digitalen Zeitalters erkennt man die Chefs häufig nicht mehr an den äußeren Zeichen. Es ist ziemlich egal, ob er oder sie mit dem Fahrrad, einem Elektrorol­ler oder im Tesla in die Arbeit kommt und wie repräsenta­tiv der Schreibtis­ch ist. Zum Hofhalten hat er oder sie ohnehin keine Zeit. Die Heldenvere­hrung alten Zuschnitts funktionie­rt nicht mehr, wenn sich Unternehme­n alle paar Monate bis Jahre neu erfinden müssen.

Was heißt dann eigentlich vorgesetzt? Wer ein Unternehme­n voranbring­en will, kann heute nicht mehr Befehle brüllen, sondern muss das Hirnschmal­z der gesamten Mannschaft aktivieren, um gemeinsam die richtigen Entscheidu­ngen zu treffen. Genau genommen sind die heutigen Chefs Nebengeset­zte. Das heißt nicht, dass der oder die Betreffend­e neben dem Stuhl, sondern gleichgest­ellt neben seinen Mitarbeite­rn sitzen sollte. Doch weil Sitzen angesichts des Tempos der Veränderun­g kein passendes Bild mehr ist, muss man eher davon sprechen, dass Chefinnen und Chefs ihren Mitarbeite­rn zur Seite gestellt sind und sie bestmöglic­h begleiten sollten. (Mitläufer wäre im Hinblick auf die Bewegung ein treffender Begriff, er passt aber nicht zur großen Verantwort­ung.) Es mag zu bescheiden klingen, aber es stimmt: Chefs sind dazu da, Mitarbeite­r zu unterstütz­en und ihnen Hürden aus dem Weg zu räumen. Denn es geht nur noch gemeinsam: Der große Chef allein ist ein armes Würstchen, wenn er sich nicht als Moderator und Coach einer Mannschaft bewährt, in dessen Umfeld das pure Chaos herrscht.

Chaos. Wie will man sonst die Umbrüche nennen, die quer durch die Wirtschaft zu spüren sind? Wer da noch von „wohlgeordn­eten Häusern“spricht, hat die neue Welt nicht verstanden. „Trotz Umbau geöffnet“, so lautet inzwischen der Dauerzusta­nd der Unternehme­n. Experiment­e, Innovation, Zusammenar­beit quer über die Abteilunge­n, um sich eine neue Zukunft zu sichern: Nur wer das Chaos und Unfertige liebt, taugt zur guten Führungskr­aft.

Dann wäre da noch der Umgang mit dem Risiko: Wenn kein Projekt scheitern darf und Schwierige­s von Mitarbeite­rn hemmungslo­s geschönt werden muss, bevor man dem Chef davon berichten kann, sollte man sich tatsächlic­h einen neuen suchen. Einen Chef oder noch besser eine Chefin neuen Zuschnitts.

Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria.

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