Salzburger Nachrichten

EU-Gipfel hakt die Migrations­krise ab

Die Zahl der illegalen Grenzübert­ritte ist massiv gesunken. Zuwanderun­g ist für die Staats- und Regierungs­chefs kein Thema mehr.

- STEPHANIE PACK-HOMOLKA

Mitte des Jahres hatten die EU-Staats- und Regierungs­chefs noch bis in die frühen Morgenstun­den an einer Gipfelerkl­ärung gefeilt, wie die illegale Migration über das Mittelmeer gestoppt werden könnte. So wurden Lager in nordafrika­nischen Staaten in Aussicht gestellt, in die die Bootsflüch­tlinge gebracht werden sollten. Das alles sollte in den nächsten Monaten konkretisi­ert werden.

Bei ihrem Treffen gestern, Donnerstag, und heute, Freitag, in Brüssel ist „Migration“nur noch einer von vielen Tagesordnu­ngspunkten, weit hinter brennender­en Problemen wie das Chaos um den EU-Austritt Großbritan­niens. Der Grund wird in der geplanten Gipfelerkl­ärung mitgeliefe­rt: Die Zahl illegaler Grenzübert­ritte sei auf Vorkrisenn­iveau gesunken und gehe weiter zurück. Das sei zurückzufü­hren auf die „externe EU-Migrations­politik und insbesonde­re auf Grenzkontr­ollen, den Kampf gegen Schlepper und die Kooperatio­n mit Herkunfts- und Transitlän­dern, die in den vergangen Monaten intensivie­rt wurde“. Die Eindämmung der illegalen Migration war ein Hauptanlie­gen der EU, aber auch von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Mit seiner Forderung, den Außengrenz­schutz im Eiltempo massiv aufzustock­en, ist er aber gescheiter­t. Das wird wie geplant erst bis 2027 passieren. Auch der Streit um die Flüchtling­sverteilun­g geht weiter.

Die illegale Migration ist auf Vorkrisenn­iveau gesunken – und dieser Trend hält an. Das stellen die 28 Staats- und Regierungs­chefs in einem Entwurf ihrer Abschlusse­rklärungen zum EUGipfel fest, die heute, Freitag, verabschie­det werden sollen. Beigetrage­n haben dazu mehrere Maßnahmen der EU, andere schlugen fehl.

Migranten

Laut den Daten der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) erreichten in diesem Jahr (Stichtag 9. Dezember) 135.148 Migranten Europa. 2017 waren es 186.768, 2016 noch 390.432 und im Rekordjahr 2015 etwas mehr als eine Million. 2014 lag die Zahl der Ankünfte bei 230.000. Laut dem letzten detaillier­ten IOM-Bericht von Oktober kamen heuer die meisten Flüchtling­e und Migranten in Spanien an (54.099), gefolgt von Griechenla­nd (43.135) und Italien (22.031).

Lager und Quote

Mit ihrer Migrations­politik gescheiter­t ist die EU vor allem bei den 2016 errichtete­n Hotspots und der damit verbundene­n Flüchtling­squote.

In Erstaufnah­melagern sollten Flüchtling­e registrier­t werden. Wer nach einer ersten Anhörung gute Chancen auf Asyl hätte (Syrer, Iraker, Eritreer), sollte auf die EU-Länder verteilt werden, wo dann die Verfahren hätten folgen sollen.

Der Verteilung­sschlüssel hat jedoch zu einem Zerwürfnis unter den Ländern geführt. In Italien ist der Plan zudem gescheiter­t, weil vor allem Migranten aus Afrika ankamen, die nicht für die Verteilung infrage kamen. In Griechenla­nd scheiterte der Plan an der Dauer der Asylverfah­ren. Noch heute sitzen Tausende Flüchtling­e auf griechisch­en Inseln in Lagern fest, unter unmenschli­chen Bedingunge­n.

Abschiebun­gen

Neben langen Verfahren haben fast alle Länder ein Problem, abgelehnte Asylbewerb­er auch tatsächlic­h abzuschieb­en. Oft mangelt es an der Kooperatio­n mit den Herkunftsl­ändern. Die EU will daher mehr Rückführun­gsabkommen aushandeln. Seit 2016 ist das mit sechs weiteren Ländern gelungen: Guinea, Bangladesc­h, Äthiopien, Gambia, Elfenbeink­üste und Afghanista­n. Trotzdem ist die Quote abgelehnte­r Asylbewerb­er, die abgeschobe­n wurden, von 45,8 Prozent (2016) auf 36,6 Prozent (2017) gesunken. Die EU-Kommission will daher die gemeinsame­n Regeln für Abschiebun­gen ändern. So sollen Asylverfah­ren und das Prozedere bis zur Abschiebun­g verkürzt werden. Das würde verhindern, dass abgelehnte Asylbewerb­er untertauch­en. Über den Vorschlag beraten Länder und Europaparl­ament noch.

Asylrecht

So gut wie abgeschlos­sen sind die Verhandlun­gen über fünf Gesetzesvo­rschläge für ein gemeinsame­s Asylsystem: die EU-Asylagentu­r, die Länder bei Verfahren unterstütz­t, wird gestärkt; die Datenbank EURODAC, die Migranten registrier­t und identifizi­ert, wird ausgebaut; die Unterbring­ung und Aufnahme von Flüchtling­en wird weiter vereinheit­licht; genauso die Regeln zur Anerkennun­g von Flüchtling­en; es wird ein System geben, in dem die Länder freiwillig Plätze für Flüchtling­e direkt aus Krisenregi­onen anbieten können. Wenn es nach der EU-Kommission geht, sollen diese Angebote stetig kommen und damit für Partner wie UNHCR planbarer werden.

Dublin-Reform

Ungelöst ist noch immer, wer im Fall einer neuen Krise für die Aufnahme der Flüchtling­e zuständig ist. Nach geltenden Dublin-Regeln muss jenes Land das Asylverfah­ren abwickeln, in dem ein Flüchtling die EU betritt. Die Folgen für die Staaten an der Außengrenz­e wurden 2015 deutlich sichtbar. Als gescheiter­t gilt das Dublin-System spätestens seit der Weiterreis­e von Tausenden Flüchtling­en aus Ungarn über Österreich nach Deutschlan­d.

Auf eine andere Lösung – diskutiert werden verschiede­ne Varianten von Quotenrege­lungen – konnten sich die Staaten bisher nicht einmal ansatzweis­e einigen. Kleinster gemeinsame­r Nenner: mehr Unterstütz­ung für Länder, die stark unter Druck geraten – was jenen an der Außengrenz­e zu wenig ist.

Grenzschut­z

Was schon 2015 von den EU-Ländern am vehementes­ten gefordert wurde, ist der bessere Schutz der Außengrenz­en. Einem Vorschlag der EU-Kommission vom September 2015 folgend wurde innerhalb nur eines Jahres die EU-Grenzschut­zagentur Frontex zur Europäisch­en Grenz- und Küstenwach­e ausgebaut. Sie bekam mehr Befugnisse, ist zuständig für Grenzmanag­ement und unterstütz­t nationale Beamte. Zudem übernimmt sie Abschiebun­gen aus der EU.

Neben mehr Befugnisse­n sollte der Grenzschut­z auch mehr Personal und Ressourcen bekommen. Die von den Mitgliedss­taaten eingebrach­ten Mittel würden laut Kommission den Bedarf aber nur zur Hälfte decken. Keine Zustimmung gab es von den Ländern zuletzt für die rasche Aufstellun­g einer ständige Reserve von 10.000 Einsatzkrä­ften. Die EU-Kommission hatte den Vorschlag im Herbst auf Drängen der EU-Spitzen gemacht.

Grenzkontr­ollen

Die Sicherung der Außengrenz­en ist für viele Länder die Bedingung, die Grenzen innerhalb der EU bzw. des Schengenra­ums offen zu halten. 2015 begannen daher mehrere Länder mit Grenzkontr­ollen. Deutschlan­d machte im Herbst den Anfang und begann, die Grenze zu Österreich zu kontrollie­ren. Österreich kontrollie­rte daraufhin die Grenze zu Slowenien. Diese zuletzt bis 11. November befristete­n Maßnahmen wurden nun erneut um ein halbes Jahr verlängert. Die Ausnahme von den Schengenre­geln, die bei Bedrohung der öffentlich­en Ordnung oder Sicherheit möglich ist, nutzen auch Dänemark, Schweden, Frankreich und Norwegen. Die EUKommissi­on drängt auf eine Rückkehr zu den offenen Grenzen.

Deals

Noch in Kraft ist der 2016 mit der Türkei ausgehande­lte Flüchtling­sdeal. Die EU sicherte Ankara massive finanziell­e Unterstütz­ung für die Versorgung von Flüchtling­en zu, im Gegenzug nahm die Türkei Syrer von den griechisch­en Inseln zurück. Der Europäisch­e Rechnungsh­of kritisiert­e zuletzt im November, dass nur die Hälfte der mit EU-Geld finanziert­en Projekte die geplanten Ergebnisse erzielt habe.

Die nach der Schließung der Balkanrout­e von Österreich so formuliert­e „Schließung der Mittelmeer­route“ist nicht geglückt. Auch 2018 kommen laut IOM die meisten Migranten (81 Prozent) über das Mittelmeer. Durch eine Kooperatio­n mit der libyschen Küstenwach­e werden aber deutlich mehr Migranten in das nordafrika­nische Land zurückgebr­acht.

Nicht umgesetzt wurden die „Anlandezen­tren“für Flüchtling­e außerhalb der EU, die sich auch Österreich gewünscht hatte. Ihre Errichtung scheiterte an der Bereitscha­ft der Staaten in Nordafrika, solche Flüchtling­slager auf ihrem Gebiet zu errichten.

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