Entblößte Seelen erzeugen Gänsehaut
Was passiert, wenn der Glaube an die Treue schwindet? In der Oper „Euryanthe“werden menschliche Abgründe sichtbar.
WIEN. Schon die Ouvertüre reißt mit. Wie packend dieser Opernabend werden soll, wird schon zu Beginn deutlich. Einige der Protagonisten des Abends kauern nachdenklich in dem in Grau gehaltenen Altbau-Einheitsbühnenraum von Bühnenbildner Johannes Leiacker. Nur wenige Möbel finden darin Platz: ein Bett, der eine oder andere Sessel und im ersten Teil der Aufführung ein Flügel, an dem bald Eglantine wie wild geworden in die Tasten hauen wird.
Heimelig und gemütlich ist hier, auf der Bühne des Theaters an der Wien, nichts, dafür gibt es genügend Platz für großes Theater. Das enttäuscht vielleicht jene, die Carl Maria von Webers Rittergeschichte in einem Zauberwald mit Geistern und Schlangen sehen wollen, ist aber klug. Es braucht nicht viel, um die psychologischen Tiefen der Figuren herauszuarbeiten.
Graf Adolar ist soeben vom Krieg zurückgekehrt und schwer verliebt. An seinem Glauben an die Treue kann niemand rütteln, auch nicht der zynische Graf Lysiart. Den nervt das naive Schmachten des Soldaten für Euryanthe. Diese klagt indes Eglantine ihr Leid. Sie vermisst ihren Geliebten und verrät der Vertrauten bei der Gelegenheit ein dunkles Geheimnis. Nicht die beste Idee: Eglantine entpuppt sich schon bald als wild gewordene Intrigantin, die mit Lysiart den Anschein von Euryanthes Untreue erwecken möchte. Regisseur Christof Loy vermag tiefe Abgründe des Menschlichen mit Blicken, Bewegungen und dem Einsatz von Licht (Reinhard Traub) auf die Bühne zu stellen, Zeit- und Raumebenen zusammenzuführen und freizulegen, was sich in der Musik verbirgt.
Fast unsingbar ist diese Musik Carl Maria von Webers, besonders für die beiden dramatischen Frauenpartien. In der Titelrolle überzeugte die Sopranistin Jacquelyn Wagner mit dramatischer und dabei feinfühliger, perfekt sitzender Stimme. Theresa Kronthaler interpretiert ihre Kontrahentin Eglantine faszinierend, auch wenn die Rolle noch einen Hauch zu dramatisch für sie ist. Trotz Durchschlagskraft und Schönheit fehlt es ihrem Mezzo an hochdramatischer Tiefe. Norman Reinhardts Adolar ist bei aller tenoraler Schönheit nur mäßig heldenhaft, nicht alle dramatischen Ausbrüche sind ihm gelungen. Kein Problem, sich im wahren Sinne zu entblößen, hatte Andrew Foster-Williams als fantastisch agierender Lysiart.
Bleibt noch Stefan Cerny als König Ludwig VI. Was für eine Stimme! Selten erlebt man einen so voluminösen und dabei gepflegt geführten Bass, der in alle Ecken des Theaters dröhnt. Der Arnold-Schoenberg-Chor differenzierte gekonnt zwischen leisesten Tönen und dramatischen Ausbrüchen. Gänsehaut pur!
Dass der Premierenabend am Mittwoch so mitreißend gelang, ist zum großen Teil dem Dirigenten Constantin Trinks zuzurechnen. Er entlockte dem RSO Wien gespenstische Momente und Ausbrüche, er vernachlässigte aber nie den romantischen Bogen. Herrlich, wie agil und quirlig er durch den dreistündigen Abend führte. Das Publikum dankte mit Jubel, einige Buhs gab es für das Regieteam.