Schweden leiden an „flygskam“und „klimatångest“
Wie zwei Begriffe von Stockholm über Kattowitz ihren Weg in die Welt fanden.
STOCKHOLM. Die 15-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg hat auf dem UNO-Klimagipfel für Furore gesorgt. Und nebenbei brachte sie die schwedischen Begriffe flygskam (Flugscham) und klimatångest (Klimaangst) in die Medien.
Entzückt wird von den sensiblen Schweden berichtet, denen es wegen der Klimakrise so schlecht geht, dass sie dauernd daran denken und auf Flugreisen verzichten. Das habe dazu geführt, dass die schwedische Bahn deutlich mehr Passagiere verzeichne, heißt es. Das stimmt vor allem für Nachtzüge, aber unklar ist, ob das an der Flugscham liegt. Denn gleichzeitig nehmen auch die Fluggastzahlen deutlich zu. Schweden fliegen traditionell sieben Mal öfter als der Rest der Welt. Unbestritten wird es aber zum Trend, auf Flugreisen zu verzichten und von der eigenen, ganz konkreten Klimaangst zu reden, etwa in der Kneipe oder beim Abendessen mit Freunden. Vor allem die auf Stockholm konzentrierten Medien (fast alle Journalisten Schwedens wohnen im gleichen Stockholmer Stadtteil) berichten viel über die Verwerflichkeit des Fliegens, auch bürgerliche Medien wie „Expressen“. Deren stellvertretender Kulturressortleiter rügte das Fliegen schon zu Jahresbeginn als „teuersten Selbstmord in der Weltgeschichte“. En masse werden flugfreie Reisetipps angeboten. „Mit der Bahn nach Berlin“, heißt es etwa. Während früher häufige Flugreisen mit Status und Erfolg verbunden wurden, hängt ihnen nun etwas Peinliches, Verlottertes an, heißt es in einer führenden Zeitung.
Einzelschicksale werden in Reportagen beleuchtet. In Radio Schweden geht es etwa um „den zweifachen Vater Perikles Nalbanits, der an einer Klimadepression erkrankt ist, als der Nachwuchs kam“. Er reagiert, wie in Bewältigungskursen empfohlen: sich aktiv für Umweltschutz einsetzen und auf das Fliegen verzichten. Auch Kronprinzessin Victoria gestand ein, dass sie an Klimaangst leidet. Worauf eine Zeitung anmerkte, dass sie solche Äußerungen zu unterlassen habe, weil dies politische Fragen seien, in die sich das repräsentative Staatsoberhaupt in spe nicht einmischen dürfe.
Der siebenfache Weltcupsieger im Biathlon, Björn Ferry, wiederum hat sich dazu entschieden, auf dem Boden zu bleiben. Medienwirksam setzte er durch, bei seinen weltweiten Jobs als TV-Kommentator für das öffentlich-rechtliche Fernsehen ausschließlich mit dem Zug (notfalls dem Schiff) reisen zu dürfen.
Die vielen Flugscham-Berichte machen durchaus Eindruck. Ob sie auch einen Effekt haben, ist umstritten. Eindrücke. „Flugscham? Klimaangst? Ja, das ist hier total verbreitet, mein Vater redet jeden Tag davon. Und er ist kein grüner Akademiker, sondern ein normaler Arbeiter“, sagt der 31-Jährige Student Jonas aus Göteborg. Mitstudentin Åsa aus einem Dorf im Norden sagt dagegen, dass auf dem Land nicht so viel darüber geredet werde. „Es ist ein Luxus der Großstädter, auf Flugreisen zu verzichten“, meint sie. Kritiker führen ins Gefecht, dass Klimaangst und Flugscham Zeichen desselben Umweltschutzengagements seien wie in den 1980er-Jahren, nur eben in psychologisierter statt politisierter Form. Die städtische Bioladen-Mittelschicht werde durch Flugverzicht „nicht die Welt retten“. Allerdings könnte genau diese Gruppe eine Kettenreaktion auslösen.
Auch die Kronprinzessin ist betroffen