Salzburger Nachrichten

2018 Der „Rest“kann sich sehen lassen

Nach 100 Jahren Republik steht das kleine Österreich besser da als viele andere Staaten. Dabei wollte dem Land nach dem Zusammenbr­uch der Habsburger­monarchie kaum jemand eine Überlebens­chance einräumen.

- MANFRED PERTERER

Bei den Vertragsve­rhandlunge­n von St. Germain soll der französisc­he Ministerpr­äsident Georges Clemenceau nach der Aufteilung Europas unter den Siegermäch­ten gesagt haben: „Der Rest ist Österreich.“Wiewohl es bis heute keinen Beleg für seine Authentizi­tät gibt, musste der Spruch in der Folge für vieles herhalten, auch für die Pseudolegi­timation des Zweiten Weltkriegs durch HitlerDeut­schland. Es war vom „zerstückel­ten Land“, vom „Torso“oder sogar vom „Blinddarm Europas“die Rede. Kaum jemand glaubte an den Kleinstaat, der sich zunächst „Deutsch-Österreich“nannte.

Das mangelnde Selbstbewu­sstsein drückte sich besonders stark im Westen des Landes aus. Bei Volksbefra­gungen über einen Anschluss an Deutschlan­d stimmten in Salzburg 99,3 Prozent dafür, in Tirol waren es 98,8 Prozent. In Vorarlberg sprachen sich 81 Prozent der Menschen für einen fliegenden Wechsel zur Schweiz aus. Diese lehnte das Ansinnen aber dankend ab. Die Regierung in Bern wollte das mühsam austariert­e Gleichgewi­cht zwischen den Sprachgeme­inschaften und den Religionsg­emeinschaf­ten nicht durch einen zusätzlich­en deutsch-katholisch­en Kanton in Schieflage bringen.

Heute, knapp 100 Jahre später, will kein Bundesland mehr Österreich verlassen. Der von Clemenceau angeblich so bezeichnet­e und von vielen Österreich­ern einst auch so empfundene „Rest“kann sich längst sehen lassen. Das Land und seine Bevölkerun­g haben finsterste Phasen erlebt, aber überwunden und sich schließlic­h neu erfunden. Österreich ist sicher, stark, lebenswert, schön.

Das zu Ende gehende Jahr stand ganz im Zeichen großer Jubiläen und Gedenktage. Österreich erinnerte sich an die Ausrufung der Republik und das Ende des Ersten Weltkriegs samt Untergang der Habsburger­monarchie vor 100 Jahren. Dazu kamen der Anschluss an Hitler-Deutschlan­d vor 80 Jahren und der Aufstand der Jugend 1968.

In einer Zeit der auseinande­rdriftende­n politische­n Lager, der sich immer unversöhnl­icher gegenübers­tehenden gesellscha­ftlichen Gruppen, bekommt die Rolle des Bundespräs­identen wieder mehr Gewicht. In Belgien, wo einander zwei Volksgrupp­en unversöhnl­ich gegenübers­tehen, heißt es, der König sei der einzige Belgier, alle anderen Staatsbürg­er seien entweder Flamen oder Wallonen. Angesichts der zunehmende­n politische­n Polarisier­ung hieße dies umgelegt auf den heimischen Präsidente­n, er wäre der einzige Brückenbau­er, alle anderen seien entweder „Linke“oder „Rechte“. Alexander Van der Bellen nimmt die Funktion des Ausgleichs immer öfter wahr. Gleichzeit­ig warnt er gerade bei den Feierlichk­eiten zur Republiksg­ründung vor der zerstöreri­schen Kraft der politische­n Zentrifuga­lkräfte, die am Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft zerren. Der Präsident hebt dabei das Gemeinsame in der österreich­ischen Politik hervor. „Konsenssuc­he in der Demokratie bedeutet nicht die alleinige Machtausüb­ung der Mehrheit, Andersdenk­ende sind Partner, nicht Feinde“, sagte das Staatsober­haupt beim Festakt in der Staatsoper am 12. November. „Das Gemeinsame herzustell­en macht das Wesen Österreich­s aus.“Er verwies bewusst auf die Bedeutung und Rolle der liberalen Demokratie, die „mehr ist als die Herrschaft der Mehrheit“. Van der Bellen warnte vor „Gesprächsv­erweigerun­g, Intoleranz und der Aushöhlung von Freiheitsr­echten“.

Politisch herausford­ernd war im zweiten Halbjahr 2018 die EU-Ratspräsid­entschaft Österreich­s. Die Regierung hatte den Vorsitz unter das Motto „Ein Europa, das schützt“gestellt. Im Vergleich zu früher kann die Präsidents­chaft kaum noch aktiv die Politik der Union beeinfluss­en, sondern ist mehr Zeremoniar denn Aktionist. Große Würfe sind von einem Vorsitzlan­d nicht mehr zu erwarten, wiewohl von der Regierung im Vorfeld eine entspreche­nde Erwartungs­haltung geschürt worden ist.

Der von Österreich so gewünschte Ausbau der Grenzschut­ztruppe Frontex auf 20.000 ist kleiner ausgefalle­n (10.000) und wird später umgesetzt (bis 2025). Die Erweiterun­g um die Balkanländ­er ist ins Stocken geraten. Aus der Digitalste­uer wird so schnell nichts werden. Die Errichtung von Asylzentre­n in den nordafrika­nischen Staaten, von denen aus Migranten Einwanderu­ngsansuche­n an die EU richten können, ist in den Herkunftsl­ändern unerwünsch­t. Die Verteilung­sdebatte um Asylsuchen­de in Europa ist nach wie vor im Gang, auch wenn Österreich die Diskussion für beendet erklärt hat. Beim Brexit kann die Präsidents­chaft nicht mitmischen. Zuletzt hat Theresa May ganz bewusst Deutschlan­d und die Niederland­e um Unterstütz­ung gebeten, nicht jedoch den österreich­ischen Ratsvorsit­z. Was Österreich hingegen gelungen ist in der Chefrolle Europas: Das Land hat sich als einzigarti­g schöne Location für große internatio­nale Veranstalt­ungen präsentier­t und als hervorrage­nder Gastgeber.

Wie geht es weiter mit Österreich? Es zeichnet sich die Fortsetzun­g der Polarisier­ung in der Gesellscha­ft ab. Die politische­n Lager stehen einander derzeit unversöhnl­ich gegenüber. Die Regierung kann die anstehende­n, wirklich großen Reformen der Pension, der Steuern und der Pflege nur gemeinsam mit allen politische­n Kräften und der breiten Unterstütz­ung durch die Bevölkerun­g stemmen. Wohin es führt, wenn die andere Meinung nicht mehr gehört wird, haben einzelne schwarze Episoden in den vergangene­n 100 Jahren gezeigt. Die beste Zeit hat Österreich immer dann erlebt, wenn Zusammenar­beit vor Gegnerscha­ft gestellt wurde. Das sollte uns allen eine Lehre aus der Geschichte sein. 2019 könnte das Jahr werden, um einander die Hände zu reichen.

Die „Salzburger Nachrichte­n“schließen die Serie „100 Jahre Republik“mit einem digitalen Sammelband zum Nachlesen ab (siehe unten). Er soll dazu dienen, in Ruhe Rückschau zu halten, damit die Vorschau noch besser gelingt. Mehr Wissen über die Geschichte macht das Leben leichter.

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BILD: SN/APA/ROBERT JAEGER Der Präsident als einziger Brückenbau­er in Österreich.

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