Die Briten proben den Brexit
Mit einem künstlichen Stau wollte der britische Verkehrsminister für das Verkehrschaos üben, das im Fall eines ungeregelten Brexit erwartet wird. Gebracht hat die „Operation Dachs“nur Spott.
Die Sonne geht Montag früh gerade über dem Küstenort Ramsgate auf, als sich plötzlich Dutzende Lastwagen in Bewegung setzen. Sie hatten sich zuvor auf einem stillgelegten Flughafen-Rollfeld versammelt, nun schert ein Fahrzeug nach dem anderen aus auf die A256, die Autobahn in Richtung der Hafenstadt Dover – um dann im Stau stecken zu bleiben. Es ist ein Schauspiel, initiiert vom britischen Verkehrsministerium.
Mit der „Operation Dachs“wollte London für den Ernstfall proben, sollte das Vereinigte Königreich am 29. März ohne Abkommen aus der EU ausscheiden. Seit Monaten warnen Experten vor den Folgen eines chaotischen Brexit, besonders für die Grafschaft Kent, dem Nadelöhr für Verbindungen nach Frankreich und damit zum Kontinent. Hier liegen der wichtige Fährhafen Dover und die Zufahrt zum Kanaltunnel. Im Fall eines ungeordneten Brexit drohen hier ein Verkehrskollaps und für Unternehmen kostspielige Verzögerungen bei der Abfertigung von Lastwagen.
Wollte der britische Verkehrsminister Chris Grayling mit der Simulation eines Staus am Montag der eigenen Bevölkerung und der EU demonstrieren, dass das Land bereit für eine ungeregelte Scheidung ist, darf dieser Versuch als gescheitert betrachtet werden. Anders als erhofft, kamen statt 150 Lkw nur 89, manche Beobachter sahen nur 79. „Großbritannien kann nicht einmal einen künstlichen Stau in Kent organisieren, wie soll das Land Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritannien erst nach dem Brexit klarkommen?“, lästerten Kommentatoren. Die Opposition sprach von einer steuerfinanzierten Farce. Als „Augenauswischerei“kritisierte die Road Haulage Association, der Verband der privaten Speditionsunternehmen, die Aktion. Man könne nicht die Realität von 6000 Trucks nachahmen, die bei einem NoDeal-Szenario aufgehalten würden.
An Spitzentagen transportieren die Fähren neben Autos sogar bis zu 10.000 Lkw pro Tag. Die Grafschaft Kent befürchtet Chaos, würde die vereinbarte Übergangsphase wegfallen, in der sich für Unternehmen und Bürger beinahe nichts ändern soll. Ein internes Papier, das vor einigen Wochen öffentlich wurde, macht die Befürchtungen klar: Dass der Verkehr zum Stillstand kommt und die Autobahn zu einem einzigen Parkplatz wird, weil wegen neuer Zölle Tausende Lkw überprüft werden müssen. Dass sich der Müll auf den Straßen türmt, weil er nicht mehr abgeholt werden kann. Dass Schulkinder ihre Prüfungen verpassen, weil sie nicht rechtzeitig zum Unterricht erscheinen können. Ganz zu schweigen von der Wirtschaft: Fabriken sind abhängig von der zügigen Beförderung von Zulieferteilen, Supermärkte von Waren vom Kontinent.
Während Premierministerin Theresa May noch immer versucht, einen ungeordneten EU-Austritt zu verhindern, schaltete sich am Montag der ehemalige Außenminister und Brexit-Wortführer Boris Johnson mit seiner Kolumne im „Telegraph“ein: „Wenn das Volk vor die Wahl gestellt wird, zu entscheiden zwischen einer vorübergehenden Knappheit an, sagen wir, KäseZwiebel-Chips oder der Aussicht, dass sich das Land permanent der EU unterwirft, ohne Mitspracherecht bei EU-Gesetzen, dann ist die Öffentlichkeit jetzt grimmig dazu entschlossen, sich mit Chips mit Shrimpscocktail-Geschmack zu begnügen, bis es wieder Käse-Zwiebel-Chips gibt.“
Tatsächlich ist es wie vor Weihnachten auch im neuen Jahr unwahrscheinlich, dass die Mehrheit des britischen Parlaments den Austrittsvertrag absegnet. Voraussichtlich am 15. Jänner sollen die Abgeordneten nun endgültig vor die Wahl gestellt werden. Doch massiver Widerstand kommt sowohl von der oppositionellen Labour-Partei als auch aus den konservativen Reihen. Für Brexit-Hardliner wie Johnson macht der Austrittsvertrag zu viele Zugeständnisse an die EU. Die Europafreunde spekulieren derweil auf ein erneutes Referendum.
Bei einer Ablehnung des Deals würde Großbritannien in „unbekanntes Terrain“vorstoßen, warnte die Premierministerin am Sonntag noch einmal. Wie jedoch ihr Plan B für diesen Fall aussieht, darauf lieferte sie derweil keine Antwort.