Kindheit wurde geraubt: Viele neue Opfer melden sich
Mehr als 1000 frühere Heimkinder beantragten bei der Volksanwaltschaft eine Rente. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein für Gewalt, die an Perversion und Brutalität nicht zu überbieten war.
1039 Personen (522 im Vorjahr) haben sich seit Mitte 2017 bereits an die bei der Volksanwaltschaft angesiedelte Heimopferrenten-Kommission gewendet, um eine Pension von pauschal 300 Euro monatlich zu beantragen. Teilweise sind Fälle von Menschen dabei, die noch in den Kriegsjahren in den staatlichen oder kirchlichen Institutionen zu Opfern wurden. „Die Antragsteller sind oftmals hochbetagte Menschen, die als Kinder im Heim misshandelt wurden“, sagt der zuständige Volksanwalt Günther Kräuter. Und Johanna Wimberger, Leiterin des Büros Rentenkommission, ergänzt: „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Vom Gesetzgeber fühlt sich die Volksanwaltschaft zu wenig unterstützt, für die neue Aufgabe wurden nur drei Planstellen zugewiesen. Die Aktenrecherche sei teilweise sehr zeitintensiv, weshalb die Fertigstellung eines Antrags bis zu einem halben Jahr dauern könne. Dennoch seien 60 Prozent aller Anträge erledigt. Sprich, es erfolgte in diesen Fällen eine Empfehlung an die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) oder der Fall wurde für eine Einmalentschädigung an eine Opferschutzstelle weitergesendet und dort positiv beurteilt. An rund 7000 Opfer leisteten die Klasnic-Kommission, alle neun Bundesländer, die evangelische Kirche sowie SOSKinderdorf bereits einmalige Entschädigungen zwischen 5000 und 25.000 Euro. Betroffene, die dort als Missbrauchsopfer anerkannt wurden, haben automatisch Anspruch auf die Zusatzrente, so sie das Pensionsalter erreicht haben.
Die PVA sei praktisch allen Empfehlungen auf Rentenzahlung nachgekommen. In sieben Prozent der durch die Rentenkommission bewerteten Fälle sei der Anspruch verneint worden, denn Voraussetzung sei, dass die ehemaligen Heimbewohner Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat im Sinne des Strafgesetzbuchs geworden seien, erläutert Johanna Wimberger. Sie schildert auch, wie schwer sich die Betroffenen oftmals tun, bis sie überhaupt bei der Volksanwaltschaft vorstellig werden. „Die Leute ringen sehr lange mit sich. Sie haben massive Abwehrmechanismen“, sagt Wimberger. Dadurch, dass sie in einem Vieraugengespräch mit Psychologen das Erlebte erzählen müssten, kämen alte Erinnerungen hoch.
Günther Kräuter, Volksanwalt
„Einige erzählten von wochenlangen Schlafstörungen vor der Antragstellung, sie sind retraumatisiert. Manche haben wegen der psychischen Belastung das Antragsverfahren sogar abgebrochen“, betont Wimberger. Wieder andere wählten bewusst den Weg zur Volksanwaltschaft, weil sie zur Täterorganisation, wie der Kirche oder dem Staat, kein Vertrauen mehr haben. „Es ist erschütternd, was sich in diesen Einrichtungen, aber auch bei Pflegeeltern zugetragen hat. Bis in die 1970er-Jahre wurden Strafen verhängt, die folterähnlichen Charakter haben“, sagt Volksanwalt Kräuter. „Rohe Gewalt, sexueller Missbrauch und psychische Drangsalierungen von Kindern und Jugendlichen standen an der Tagesordnung. Die Misshandlungen waren an Perversion und Brutalität nicht zu überbieten und übersteigen jede Vorstellung“, betont Kräuter.
In fünf Fällen habe die Kommission in der Volksanwaltschaft, deren Leiter Kräuter ist, eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Ob die Täter jemals zur Verantwortung gezogen werden, ist allerdings sehr fraglich. „Manche Täter sind schon vor Jahrzehnten verstorben oder es gelten Verjährungsbestimmungen. Als Kommission haben wir festgelegt, sobald auch nur die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen gegen die Kin- derseelen besteht, wird an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet“, erklärt Kräuter.
In einem Fall sei postwendend die Rückmeldung gekommen, dass wegen Verjährung kein Ermittlungsverfahren eingeleitet werde. Ob in den anderen vier Fällen die Anklagebehörde aktiv ist, weiß Kräuter nicht. Nur bei schwerem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen mit schwerer Körperverletzung bzw. Vergewaltigung beträgt die Verjährungsfrist zwanzig Jahre.
Kräuter begrüßt, dass mit der Novelle zum Heimopferrentengesetz vom Juli 2018 auch Kinder und Jugendliche erfasst werden, die in Krankenhäusern, psychiatrischen Einrichtungen, städtischen Kinderheimen oder in Einrichtungen privater Träger misshandelt wurden. Nach wie vor keine Entschädigung bekommen Menschen, wenn sie beispielsweise dem Pfarrer in der Heimstunde oder in der Sakristei zum Opfer fielen oder sich ein Vater oder Onkel an einem Kind in den eigenen vier Wänden vergangen hat.
„Strafen waren einer Folter ähnlich.“