Die Seele trotzt der eisigen Isolation
Eingeschneit und abgeschnitten zu sein ist eine belastende Situation. Psyche und Körper mobilisieren dann alle Kräfte. Wer in der Lage ist, zu handeln, der schöpft daraus Mut und Durchhaltevermögen.
SALZBURG. In Teilen Österreichs und Bayerns kämpfen Bewohner und Einsatzkräfte weiter gegen den Schnee, ohne Aussicht, dass sich die Lage rasch bessern wird. Die Neuschneemengen an der Nordseite der Alpen haben in einigen Regionen extreme Werte erreicht. In Salzburg sind Ortsteile im Tennengau und Pinzgau nicht erreichbar, auch das Salzkammergut, das Mühlviertel und Galtür in Tirol sind betroffen. Im nachbarlichen Berchtesgaden wurde der Katastrophenfall ausgerufen, weil eine Siedlung und eine Gemeinde weitgehend abgeschnitten sind.
In einem Haus oder in einer Ortschaft stunden- oder tagelang wie eingeschlossen zu sein ist eine große Belastungssituation. Cornel Binder-Krieglstein ist Leiter der Fachsektion Notfallpsychologie im Berufsverband Österreichischer Psychologen. Wie ein Betroffener mit einer solchen Lage umgeht, hängt von vielen Faktoren ab, wie Cornel Binder-Krieglstein erklärt: „Urlauber, die in einem Hotel sitzen, in dem es an Lebensmitteln und Zuspruch nicht mangelt, werden höchstens versäumte Termine beklagen und sich ein wenig eingesperrt fühlen. Aber das ist dann eher ein philosophisches Problem.“
Anders sei es, wenn die Situation bedrohlicher werde, etwa, weil der Schneedruck das Dach und das Haus bedrohe, weil nicht genug Trinkwasser vorhanden sei, der Strom ausfalle, Medikamente fehlten und das Telefon nicht mehr funktioniere. „Wir wissen, dass es dann drei Phasen gibt. Die Schockphase, die Stabilisierungsphase und die Rettungsphase. Die Rettungsphase ist in unseren Breiten anzunehmen, denn erfahrungsgemäß werden die Einsatzkräfte aller Organisationen und auch Nachbarn sofort Hilfsmaßnahmen planen und umsetzen“, stellt Cornel Binder-Krieglstein fest.
In der Schockphase entfalten Betroffene eine hektische Aktivität, die aber nicht negativ zu sehen ist. Sie versuchen, die Lage einzuschätzen und zu beurteilen, was Priorität hat. „Man schaut also nach, ob man das Bett unter den Türstock ziehen muss, wie lange die Medikamente reichen, ob mehr als zwei Konserven in der Lade sind und wie man einen Hilferuf absetzen könnte. In der Psyche werden alle Ressourcen mobilisiert, das Adrenalin steigt, die Herzfrequenz erhöht sich, der Atem verändert sich. Der Körper weiß, dass er handeln muss“, sagt Psychologe Cornel Binder-Krieglstein. Wenn Menschen nicht handeln können, dann müssen sie mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit kämpfen. Das macht manche Menschen noch aktiver, andere ziehen sich zurück oder geraten in eine depressive Phase. Jeder versucht aber irgendwie mit der Ohnmacht fertigzuwerden.
Wenn man in solcher Lage nicht allein ist, kann das helfen: „Eine Gruppe ist grundsätzlich eine Ressource. Einer ist technikversiert, der andere beruhigt, der Dritte kennt sich medizinisch aus. So kommt man gemeinsam über die Ohnmacht hinweg.“
In der Stabilisierungsphase werden die Strategien in möglichst produktives Handeln umgesetzt, etwa indem Lebensmittel rationiert werden. In dieser Phase kommt es auf das Durchhalten an. „Unsere Psyche schätzt laufend ein, wie eine Maßnahme greift, ob sie funktioniert. Das Wichtigste ist, dass man spürt, wie die Selbstwirksamkeit zum Vorschein kommt. Das gibt Stabilität und ist eine Quelle für Zuversicht“, erklärt Cornel BinderKrieglstein.
Die Rettungsphase wirkt sich unterschiedlich auf Betroffene aus. Manche halten hart durch und dann knicken am Ende die Knie ein. Andere sagen, sie hätten die Situation auch noch drei weitere Tage durchgehalten. Wesentlich ist in jedem Fall die möglichst rasche Information, ob und wann mit Rettung oder Hilfe zu rechnen ist.
„Dann kommt die Frage, wie stark emotional bedrohlich jemand die Situation empfunden hat. Wenn sich innerhalb eines Jahres danach immer wieder belastende Erinnerungen und Ängste bemerkbar machen, spricht man von einem posttraumatischen Belastungssyndrom“, sagt der Psychologe. Vermeidungsverhalten sei wahrscheinlich, man solle mit sich sensibel umgehen und auf sein Gefühl achten. Wenn sich aber die Belastungen auf Lebensqualität, Beziehungen und Arbeit auswirkten, dann sei es Zeit, sich an einen Fachmann zu wenden, empfiehlt Cornel Binder-Krieglstein.
C. Binder-Krieglstein – „Ich will leben. Menschen in Extremsituationen. Wie Sie sich auf Notsituationen vorbereiten können“, Goldegg Verlag.
„Handlungsspielräume zu sehen ist eine Quelle für Zuversicht.“ Cornel Binder-Krieglstein, Notfallpsychologe