Wien – ein guter Platz zum Streiten
Bundesregierung gegen Wien. Wien gegen Bundesregierung. Aber ist in Wien wirklich alles so schlecht? Oder so gut? Ein Faktencheck.
Türkis-Blau gegen Rot-Grün und umgekehrt. Derzeit fliegen zwischen der Bundesregierung und dem Wiener Rathaus die Hackln besonders tief. Auslöser ist die Reform der Mindestsicherung, deren Begutachtung soeben zu Ende gegangen ist.
Die Ankündigung Wiens, diesen „Wahnwitz“nicht umzusetzen, hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Donnerstag mit der Wiederholung eines unfreundlichen Sagers quittiert: Er halte es für keine gute Entwicklung, „wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“. Die SPÖWien reagierte empört auf diese „massive Beleidigung der Wiener Bevölkerung“. Am Freitag legte Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) nach: Die rot-grüne Stadtregierung trete „offensiv für ein Förderungsprogramm für tschetschenische Großfamilien“ein. „Letztklassig“, konterte SPÖ-Landesparteisekretärin Barbara Novak.
Für Furore sorgt der Streit auf Twitter. Der Hashtag #WienStehtAuf erreichte innerhalb kürzester Zeit Spitzenquoten.
Dass die Empörung über den schon oft gehörten Kanzler-Sager diesmal besonders groß ist, hängt wohl auch damit zusammen, dass in Wien möglicherweise noch die- ses Jahr gewählt wird. Aber ganz abgesehen davon, wer sich wie für kommende Wahlen in Stellung bringt: Stimmt es überhaupt, was der Kanzler sagt? Ist in Wien wirklich alles so schlecht, wie es die Bundesregierung darstellt? Oder umgekehrt: Ist alles so gut, wie es das Rathaus darstellt? Ein Faktencheck.
Arbeitslos
Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in Wien am höchsten. Während die Arbeitslosenrate im ÖsterreichSchnitt zuletzt bei 8,7 Prozent lag, war sie in Wien mit 13,5 Prozent deutlich höher. Fast jeder dritte Arbeitslose in Österreich lebt in Wien, das sind 155.500 Menschen. Freilich ist auch in Wien die Zahl der Beschäftigten gestiegen. Von den im Dezember österreichweit 32.346 arbeitslos gemeldeten Asyl- und Schutzberechtigten lebte der Großteil – 19.363 – in Wien.
Sozialhilfe
Das führt zur Mindestsicherung, die künftig wieder zur Sozialhilfe zurückgestuft werden soll. Die meisten Mindestsicherungsbezieher leben in Wien. Und zwar mit Abstand. Das liegt daran, dass Städte – und Wien ist Österreichs einzige Millionenstadt – grundsätzlich eine Sogwirkung ausüben. Aber auch daran, dass Wien diesen Sog verstärkte, indem es bei der Mindestsicherung von Anfang an großzügiger war als andere Länder, etwa bei den Kinderzuschlägen. Umso härter würde die vom Bund vorgegebene Sozialhilfe Familien mit mehreren Kindern treffen. 233 Euro Zuschlag zahlt Wien derzeit pro Kind. Nach der Neuregelung wären es 216 für das erste, 130 für das zweite und nur noch 43 Euro für das dritte und jedes weitere Kind.
Im Durchschnitt bezogen 2017 österreichweit pro Tag 222.000 Menschen Mindestsicherung, davon lebten gut 150.000 oder zwei Drittel in Wien. Etwas mehr als die Hälfte der Wiener Mindestsicherungsbezieher sind nach Statistik-
Austria-Daten Ausländer, im Jahresschnitt 2017 waren das fast 76.300 Personen, davon 45.000 Asyl- und Schutzberechtigte.
Für Riesenwirbel sorgte im Frühjahr 2017 ein Rechnungshof-Bericht, der schwerste Kontroll- und Vollzugsmängel bei der Wiener Mindestsicherung offenbarte. Wien reagierte zerknirscht und setzte eine „Taskforce“ein. Sie kam nach Monaten zum Ergebnis, dass schon ab der Antragstellung genauer hingeschaut und insgesamt mehr kontrolliert werden müsse.
Einkommen
Laut Rechnungshof kommen die Wienerinnen und Wiener auf die österreichweit niedrigsten Einkommen: 25.704 Euro brutto sind das im Durchschnitt im Jahr. Das Bundesland mit dem höchsten durchschnittlichen Bruttojahreseinkommen ist Niederösterreich mit 30.561 Euro. Dafür gibt es in der Bundeshauptstadt die kleinste Differenz zwischen Männer- und Fraueneinkommen. Allerdings ist laut Statistik-Austria-Erhebung die Armutsgefährdung in Wien höher als in allen anderen Bundesländern. Im Österreich-Schnitt liegt die Armutsgefährdungsquote demnach bei 14,4 Prozent (Schwankungsbreite 13 bis 15,8%), in Wien liegt sie bei 21,5 Prozent (Schwankungsbreite 17,7 bis 25,4%).
Wirtschaftskraft
Überdurchschnittlich gut ist die Wirtschaftsleistung in Wien. Ein Fünftel der Bevölkerung Österreichs lebt in Wien, aber ein Viertel der Wirtschaftsleistung wird in Wien erbracht. Was das Bruttoregionalprodukt pro Kopf betrifft, lag zuletzt nur Salzburg vor Wien.
Schulden
Beim Schuldenstand pro Kopf findet sich Wien nach Kärnten und Niederösterreich auf Platz drei. Die Daten für 2017 besagen, dass die Pro-Kopf-Verschuldung in der Bundeshauptstadt 3884 Euro betrug. Zum Vergleich: In Kärnten waren es 6462 Euro pro Kopf, in Tirol 293 Euro. Werden auch die Schulden der Gemeinden eingerechnet, landet Wien mit 3884 Euro pro Kopf im Mittelfeld auf Platz fünf. An der Spitze steht Kärnten (6973 Euro), das Bundesland mit der geringsten Pro-Kopf-Verschuldung ist und bleibt Tirol (969 Euro).
Bildung
Wien ist nicht nur die größte Universitätsstadt mit der höchsten Akademikerquote in Österreich. Hier werden auch die Brennpunkte im Bildungsbereich besonders sichtbar: Laut der Salzburger Studie „Blickpunkt Bildung“waren 2016 im Österreich-Schnitt 13,8 Prozent der 15- bis 24-Jährigen weder in der Schule noch in Arbeit oder Ausbildung, in Wien waren es mehr als 21 Prozent, also jeder fünfte. Die Probleme im Bildungsbereich sind mannigfaltig. Ein Problem ist die misslungene Integration von Kindern, deren Eltern teils schon in zweiter und dritter Generation im Land sind. Der Anteil von Kindern mit nicht deutscher Umgangssprache ist in Wien besonders hoch. Österreichweit hat jeder vierte Schüler eine andere Umgangssprache, in Wien jeder zweite (51,2%). In der Neuen Mittelschule beträgt der Anteil sogar 72,8 Prozent, österreichweit sind es 31,2 Prozent.
Kriminalität
In Wien werden zwar die meisten Anzeigen österreichweit erstattet, im internationalen Vergleich ist Wien aber eine äußerst sichere Millionenstadt. 2017 wurden 190.000 der insgesamt 510.500 Anzeigen in Wien erstattet. Tendenz sinkend. Während im Schnitt jede zweite Straftat aufgeklärt wird, lag die Aufklärungsquote in Wien nur bei 42 Prozent. Die Daten des ersten Halbjahres 2018 zeigen weiter sinkende Anzeigenzahlen: In Wien verzeichnete man minus 15 Prozent, die Polizei spricht von einem „Zehnjahrestief“. Allerdings: Bei Tötungsund Sittlichkeitsdelikten gab es signifikante Anstiege.