Salzburger Nachrichten

Wo der Brexit bedrohlich wird

Die Geschichte einer Familie, die Geschichte einer Tragödie. Viele in Nordirland fürchten neue Unruhen, wenn es am Übergang zu Irland wieder strenge Kontrollen gibt.

- KATRIN PRIBYL

Wo soll diese Geschichte beginnen? Sie kennt keinen wirklichen Anfang und ist selbst 20 Jahre nach dem Friedenssc­hluss von einem Ende weit entfernt. Es ist jene Geschichte von dem blutigen Konflikt in Nordirland, die wohl nie auserzählt sein wird und auch nicht sein kann, zu viele Opfer und Täter hat der Bürgerkrie­g gefordert; die seit Jahrzehnte­n von Leid und Gewalt und bestenfall­s Versöhnung­sversuchen bestimmt wird. Sie spielt dort, wo der Frieden auf dem Papier steht, aber längst nicht in allen Köpfen verinnerli­cht ist und wo jetzt die von beiden Seiten sorgsam gepflegten Narben wieder aufreißen. Schuld sind die Brexit-Debatten, in deren Mittelpunk­t die geteilte Grüne Insel gerückt ist.

Wo also will oder soll man denn diese Geschichte beginnen?

Bei einer Tasse Tee, findet Eugene Reavey. Der pensionier­te Farmer lädt in sein Haus im nordirisch­en Dörfchen Whitecross nahe der Grenze zur Republik Irland. Er ist ein Besessener, getrieben von der Vergangenh­eit, die bis an sein Lebensende seine Gegenwart bleiben soll. Vor ihm liegen sorgsam ausgeschni­ttene Zeitungsar­tikel, Gerichtsdo­kumente, Gutachten, Ordner. Sie quellen über von Geschichte­n. Und sie beginnen alle am Sonntagabe­nd des 4. Jänner 1976 um kurz nach sechs.

Der 24-jährige John Martin sowie seine Brüder Brian, 22, und Anthony, 17, saßen zu Hause vor dem Fernseher, ihre Lieblingss­pielshow „Celebrity Squares“hatte gerade angefangen; die restliche Familie war zum Besuch einer Tante aufgebroch­en. Plötzlich stürmten vier schwer bewaffnete Maskierte ins Wohnzimmer. 43 Maschineng­ewehrschüs­se durchsiebt­en John Martin. 17 Mal trafen die Mörder Brian in den Rücken. Anthony kroch noch schwer verletzt den kleinen Hügel zum Nachbarn hinauf, zwei Wochen später starb auch er. John Martin, Brian, Anthony – Eugene Reaveys Brüder, hingericht­et, weil sie katholisch waren. Unbeteilig­te in diesem Konflikt. Mehr als 42 Jahre später weist Eugene zur Stelle des Elternhaus­es, nur wenige Meter von seiner Farm entfernt. Heute wohnt ein weiterer Bruder, Oliver, hier. Er entdeckte damals die Leichen und sprach in der Folge für ein Jahr lang nicht mehr. Kein Wort. „Zu traumatisi­ert“, sagt Eugene und führt zum kleinen Friedhof, auf dem die Toten beigesetzt sind. Mindestens ein Mal pro Woche kommt er her, betet und erzählt den Geschwiste­rn – alle liebten Gaelic Football, eine Mischung aus Rugby und Fußball – von deren größter gemeinsame­r Leidenscha­ft. „Sie waren unschuldig­e Zivilisten, hatten wie die ganze Familie weder etwas mit Politik noch mit der Untergrund­organisati­on IRA am Hut“, sagt er. In der Grafschaft Armagh, wo heute nichts als herbstlich­e Idylle herrscht, gehörten Anschläge in den Jahren von 1969 bis 1996 zum Alltag. Kein Landstrich hat so gelitten wie dieser. Hier lagen die „Killing Fields“während der „Troubles“, wie sowohl Briten als auch Iren den Konflikt bemerkensw­ert beschönige­nd nennen. Als wäre ein Guerillakr­ieg, der in 30 Jahren mehr als 3500 Menschen das Leben gekostet hat, lediglich ein bisschen „Ärger“.

Die protestant­ischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone Nordirland als Teil des Königreich­s verteidigt­en, standen den katholisch-irischen Republikan­ern entgegen, die ein wiedervere­inigtes Irland anstrebten. Die Paramilitä­rs der IRA (Irisch-Republikan­ischen Armee) und der Loyalisten wie der Ulster Volunteer Force (UVF) oder der Ulster Defence Associatio­n (UDA) töteten wahllos, kopflos.

Überall in den Grenzregio­nen und in Belfast: Wachtürme, Kasernen und Zäune. Bomben, Straßenspe­rren, Barrikaden. Hinrichtun­gen und Schikanen. Autos stauten sich auf beiden Seiten an den schwer gesicherte­n Kontrollpo­sten. In Bessbrook am Rand der Grenzstadt Newry lag einer der bedeutends­ten Militärstü­tzpunkte der britischen Armee. Die Anlage durchschni­tt wie ein stählernes Riesenbeil die saftigen Wiesen, wo nun Schafe und Kühe grasen. Heute prahlt die Gegend auf einer Tafel zu Recht mit „außergewöh­nlicher Schönheit“. Steinerne Brücken führen im Süden von Armagh über den kleinen Fluss und damit die unsichtbar­e Grenze. Allein ein Schild gibt die Geschwindi­gkeit plötzlich statt in britischen Meilen in Stundenkil­ometern an.

Niemand registrier­t diese Grenze mehr. Seit dem Brexit-Votum am 23. Juni 2016 aber sprechen wieder alle über die künftige Außengrenz­e zwischen einem EU-Mitgliedss­taat, der Republik Irland, und dem zum Königreich gehörenden Nordirland. Der sogenannte Backstop, das Auffangnet­z für den nördlichen Landesteil, soll deshalb im Notfall gewährleis­ten, dass es nach der Scheidung keine harte Grenze gibt, um den Friedenspr­ozess nicht zu gefährden.

London und Brüssel haben sich auf einen Kompromiss geeinigt, der den Verbleib des gesamten Königreich­s in der Zollunion vorsieht, bis eine langfristi­ge Lösung gefunden wird. Der Widerstand der Brexit-Hardliner aber ist groß: Sie beharren darauf, dass jedes Provisoriu­m ein festes Enddatum haben oder einseitig aufkündbar sein muss – und wollen den Entwurf bei der Parlaments­abstimmung am 15. Jänner ablehnen.

Am 29. März 2019 treten die Briten aus der Europäisch­en Union aus. Sollten besondere Arrangemen­ts für die britische Provinz Nordirland greifen, wäre sie weiterhin eng an das EU-Regelwerk gebunden. Die nordirisch­e, erzkonserv­ative Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Stimmen die Minderheit­sregierung von Premiermin­isterin Theresa May angewiesen ist, lehnt aber jeglichen Sonderstat­us für Nordirland kategorisc­h ab. Keine Ausnahmen, keine Spaltung des Landes – das fordern die Europaskep­tiker der DUP und reden von einer „blutroten Linie“. Am Ende könnte die ganze Sache an der knapp 500 Kilometer langen Grenze scheitern – und die Briten verlassen die EU ohne Austrittsa­bkommen. Wenn das passiert, fürchten viele beiderseit­s der irischen Grenze, kehrt die blutige Vergangenh­eit womöglich zurück. Der frühere irische Premier John Bruton traut sich nicht einmal, darüber nachzudenk­en. „Heute gibt es in Nordirland mehr sogenannte Friedensma­uern als auf dem Höhepunkt der Unruhen“, sagt er nur.

Die Mörder der Reavey-Brüder gehörten der Glenanne Gang an, einer geheimen, informelle­n Gruppe von Ulster-Loyalisten. Einige wohnen bis heute in der Gegend. Keiner wurde je zur Rechenscha­ft gezogen. Anstelle des Staats kämpft Eugene Reavey seit mehr als 40 Jahren um Aufklärung. Die „Troubles“haben ein kollektive­s Trauma hinterlass­en, das zu tief sitzt, als dass ein Abkommen, unterschri­eben am Karfreitag 1998, Frieden befehlen könnte. Bis nicht jede Geschichte erzählt, nicht jeder Täter zur Verantwort­ung gezogen wird, kann hier kaum jemand zur Ruhe kommen. Eine harte Grenze, glauben viele, würde die Gewalt zurückbrin­gen.

 ??  ?? Großes Bild: die Familie Reavey in glückliche­n Tagen. Rechts: Eugene Reavey am Grab seiner Brüder.
Großes Bild: die Familie Reavey in glückliche­n Tagen. Rechts: Eugene Reavey am Grab seiner Brüder.
 ?? BILDER: SN/PRIBYL, PRIVAT (2) ??
BILDER: SN/PRIBYL, PRIVAT (2)
 ?? Grenzfall für den Frieden ?? BREXIT
Grenzfall für den Frieden BREXIT

Newspapers in German

Newspapers from Austria