Das Drama um den Austritt der Briten aus der EU erlebt am Dienstag einen neuen Höhepunkt. Die Abgeordneten stimmen ab.
Das Drama um den EU-Austritt der Briten erlebt am Dienstag einen neuen Höhepunkt. Das britische Parlament stimmt ab.
BRÜSSEL.
Daniel Dalton versucht seit fast zwei Jahren, Landsleuten und Wählern die Vorgänge rund um den Brexit zu erklären. Auf seiner Website veröffentlicht der britische EU-Abgeordnete regelmäßig sein „Brexit-Briefing“. Nicht um eine parteipolitische Sicht gehe es dabei, sagt der Tory, der beim Referendum für den Verbleib seines Landes in der EU gestimmt hat. Er will die Motive und Strategien hinter den politischen Manövern verständlich machen. Mittlerweile steht Dalton bei Folge 66. Titel: „Was passiert jetzt?“Gute Frage. Wir gehen die Szenarien mit Dalton und Brüsseler Diplomaten durch.
Ein Wunder.
Wenn Premierministerin Theresa May am kommenden Dienstagabend im britischen Unterhaus eine Mehrheit für den EUAustrittsvertrag erhielte, wäre das eine Sensation. Das Brexit-Abkommen wurde in 18 Monaten zwischen EU und London ausverhandelt. Geht es durch, sind die Briten per 29. März draußen, es würde sich aber nicht viel ändern, weil eine Übergangsfrist bis Ende 2020 in Kraft tritt. Ein Ja sei aber „sehr unwahrscheinlich“, sagt Dalton. Dem Deal von May schlägt von allen Seiten Widerstand entgegen – von den Brexit-Hardlinern in der eigenen Partei, von der Opposition und auch vom Koalitionspartner, der irischen DUP. Deswegen hat May im Dezember kurzfristig die Abstimmung von der Tagesordnung genommen – und auf jetzt verschoben.
Kein Wunder.
Was also, wenn May keine Mehrheit für ihren Austrittsvertrag bekommt? Die Regierung habe einen enormen Druck aufgebaut, erklärt der EU-Abgeordnete Dalton. Sie habe den Fokus zunehmend auf ein No-Deal-Szenario und das dann erwartete Chaos gelegt. Dalton: „Dabei ging es nicht darum, rebellische eigene Abgeordnete zu überzeugen, sondern darum, die Opposition zu ängstigen, dass ihr Nein zu einem No-Deal-Brexit führen könnte.“Denn viele LabourAbgeordnete würden lieber in der Europäischen Union bleiben. Sie sollen dazu gedrängt werden, für den Austrittsvertrag als kleineres Übel stimmen, um einen harten Brexit zu vermeiden.
Zweite Abstimmung.
Sollte der Austrittsvertrag am Dienstag tatsächlich durchfallen, muss May binnen drei Tagen einen Plan B vorlegen. Dazu wurde sie vom Parlament vor wenigen Tagen verpflichtet. Aber: „Sie kann die Abstimmung wieder verschieben oder sie nach jeder Ablehnung erneut ansetzen“, erklärt Dalton. Gleichzeitig rückten das Austrittsdatum 29. März und der bedrohliche No-DealBrexit „näher und näher“. In Brüssel wird erwartet, dass May den Druck auf die Abgeordneten solcherart weiter erhöht – und eine zweite Abstimmung bis Anfang März hinauszögert. Was für ungeheure Dramatik sorgen würde.
Fristverlängerung.
Dass Großbritannien nach fast 46 Jahren Mitgliedschaft am 29. März tatsächlich ohne Vertrag und im Chaos aus der Union taumelt, glaubt Dalton nicht. „Ich halte es für wahrscheinlich, dass Artikel 50 ausgeweitet wird.“Artikel 50 der EU-Verträge regelt die Austrittsmodalitäten und sieht eine zweijährige Frist ab dem Austrittsantrag vor. Diese endet für London eben am 29. März, kann aber von allen 28 Staaten einvernehmlich verlängert werden.
Die Schwierigkeit: Im Mai wird ein neues EU-Parlament gewählt. Würde das Austrittsdatum um drei Monate bis Ende Juni verschoben, also Großbritannien vor der konstituierenden Sitzung des neuen EUParlamentes austreten, wäre das noch recht einfach. Bei einer Fristverlängerung darüber hinaus müssten die Briten an der EU-Wahl teilnehmen, die Abgeordneten wären nur für einige Monate gewählt.
EU-Diplomaten betonen, dass eine Fristverlängerung infrage komme, etwa um ein zweites Brexit-Referendum vorzubereiten. Großbritannien hätte auch noch die Möglichkeit, das EU-Austrittsgesuch überhaupt zurückzuziehen. Neues Referendum.
Damit rechnet EU-Mandatar Dalton nicht. Denn erstens dauert die legistische Vorbereitung für eine Volksabstimmung fünf bis sechs Monate. Und zweitens: „Welche Frage soll man stellen: Deal oder No-Deal? In der Union bleiben oder gehen? Dieser Deal oder bleiben?“
Theresa May hat ein neues Referendum strikt ausgeschlossen. Auch auf Seiten der Europäischen Union wird der Sinn eines zweiten Referendums bezweifelt. Sollte es erneut knapp negativ ausgehen, stünde die britische Regierung vor denselben Schwierigkeiten wie jetzt und im gegenteiligen Fall vor noch größeren.
Neuwahl.
Eine Fristverlängerung für den Brexit könnte auch für eine Neuwahl genutzt werden, wie das Labour-Chef Jeremy Corbyn offen fordert. Der Oppositionschef drängt auf ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin.
Chaos-Brexit.
Einen EU-Austritt ohne Abkommen – einen „No Deal“– will niemand. „Das wäre keine bewusste Entscheidung, sondern ein Unfall“, sagt ein hochrangiger EUDiplomat in Brüssel. Er könnte geschehen, falls sich im britische Parlament keine Mehrheit für irgendeine konstruktive Lösung finde.
Die EU selbst kann nur wenig tun. Neuerliche Verhandlungen über das 585 Seiten starke Austrittsabkommen werden in Brüssel ausgeschlossen. Um Theresa May zu helfen, den Deal durchzubringen, sind bestenfalls Briefe, Erklärungen oder sonstige politischen Beteuerungen denkbar.
Der ungeordnete Austritt am 29. März bleibt aber eine reale Gefahr. Daher bereiten sich die EU ebenso wie Großbritannien vor.
Das Ende der Geschichte.
„Meine Prognose lautet, dass Großbritannien an Ende des Jahres die EU verlassen haben wird“, sagt Daniel Dalton.
Wie und unter welchen Umständen auch immer.
„Rechne nicht mit neuem Referendum.“Daniel Dalton, brit. EU-Abgeordneter