Wie man sich ohne Ski und Schaufel mit Eis und Schnee auseinandersetzen kann, zeigt die Kulturredaktion der SN.
Lassen Sie die Wege schneebedeckt! Fräsen Sie stattdessen eine winterliche Schneise ins Hirn.
Jenseits der meteorologischen Ausnahmesituation gibt es gute Gründe, nicht hinter dem Ofen hervorzukriechen. Hier eine Auswahl der SN-Kulturredaktion für die Beschäftigung mit Eis und Schnee, aber ohne Ski und Schneeschaufel.
„Vom Gehen im Eis“von Werner Herzog
Im November 1974 machte sich Regisseur Werner Herzog auf nach Paris. Zu Fuß. Durch Kälte und Schnee. In Paris liegt, schwer erkrankt, die legendäre Filmhistorikerin Lotte Eisner. Herzog geht los, getrieben vom romantischen Gedanken, er könne sie durchs Gehen, durch einen spirituellen Opfergang quasi, vor dem Tode bewahren. Er geht an seine körperlichen Grenzen und findet für seine psychische und physische Verfassung eine derart überwältigende Prosa, dass man zumindest dieses schmale Büchlein lang nicht in die Versuchung kommen wird, in den Winter hinaus zu wollen. bef
„Bergkristall“von Adalbert Stifter
Noch einmal geht es ums Gehen im Schnee. Zwei Kinder, Konrad und Sanna, gehen los vom Bergdorf Gscheid nach Millsdorf. Es ist Weihnachten. Auf dem Rückweg fällt der Winter über sie her. Lang ist vor allem Konrad staunend überwältigt von der Natur, vom Eis und dem Knirschen des Schnees, von der Pracht der Flocken, vom Nordlicht. Adalbert Stifter zieht in „Bergkristall“aus 1845 all seine Register der Naturbeschreibung: „… und wenn es so ruhig und heimlich war, so war es, als ob sie das Knistern des in die Nadeln herabfallenden Schnees vernehmen könnten.“Der Winter ist da auch eine Sache zum Hören und er nimmt Gefangene. Ach ja, die beiden Kinder: Sie finden in einer Höhle Zuflucht und überleben. Ist ja Heiliger Abend! bef
„Schnee“von Orhan Pamuk
Ein Dichter recherchiert in der türkischen Provinz über eine Selbstmordserie junger Mädchen und gerät zwischen die Fronten von Militär und Islamisten. Unaufhörlich fällt Schnee, der dem Geschehen eine lautlose, bedrohliche Atmosphäre verleiht. Aber auch die Liebe erblüht in dieser Winterhölle. Das Tauwetter besitzt kathartische Wirkung. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk reichert diese hochpolitische Geschichte mit seiner meisterhaften Poesie an. flo
„Der Zauberberg“von Thomas Mann
Die zur Luftkur ins schneereiche Davos gereisten gesundheitlich geschwächten Menschen haben eine erstaunliche Expertise fürs Ausruhen entwickelt. Man kann – nein: muss! – dazu winters auf dem Balkon liegen, freilich in Plaids gehüllt, um die gefühltermaßen leichte, saubere Luft in seine Lungen einsickern zu lassen. Im Roman über den im Balkonliegen versierten Hans Castorp hat Thomas Mann ein Kapitel dem Schnee gewidmet. Man kann es als Solitär lesen, also einfach auf Seite 641 anfangen mit: „Fünfmal täglich kam (...) einhellige Unzufriedenheit zum Ausdruck mit dem Witterungscharakter des diesjährigen Winters.“Während Hans Castorp hinaus in den Schnee geht, sich verirrt, gegen die Kälte ein Fläschchen Portwein trinkt und so doppelt benebelt noch tiefer ins Gestöber vordringt, darf man sich zurücklehnen und staunen: Was für ein feinsinniger Großstädter! hkk
„Frozen – Die Eiskönigin“Disney nach H. C. Anderson
Elsa, Prinzessin des Königreichs Arendelle, hat Zauberkräfte. Damit kann sie Eis, Frost und Schnee erzeugen. Das ist – frei nach Hans Christian Andersons Märchen „Die Schneekönigin“– Ausgangspunkt für eines der größten filmischen Zeichentrickabenteuer der vergangenen Jahre. Kinder, die vor lauter Schnee nicht ins Freie dürfen, lassen sich damit gut eineinhalb Stunden unterhalten. Wer das Märchen auch noch vorliest, schafft einen ganzen Nachmittag. bef
„Fargo“von Joel und Ethan Coen
Sie glauben, mehr Schnee als dieser Tage an der Alpennordseite geht nicht? Dann empfehlen wir eine Reise nach Minnesota, wo die endlosen schneebedeckten Weiten auch Leichen verbergen. Die CoenBrüder haben in diesem Ambiente ihren Thriller „Fargo“angesiedelt, der bei aller Brutalität auch irrwitzig komisch ist. Ein Autoverkäufer heuert zwei Killer an, um seine Frau zu entführen und vom Schwiegerpapa Lösegeld zu fordern. Die beiden sind unfähig, der Wahnsinn nimmt seinen Lauf. Für den langen Winterabend ist nicht das Original von 1996 mit seinem grandiosen 80er-Look zu empfehlen, sondern die davon inspirierte Netflix-Serie. Hier spiegelt der endlose Schnee des amerikanischen Mittleren Westens die Kühle eines animalisch mordenden Psychopathen, das schleppende Tempo steigert die Intensität. Nur in diesen Weiten traut man sich, einen Geldkoffer einfach im Schnee zu vergraben. Jessas! flo
„Leichen pflastern seinen Weg“von Sergio Corbucci
Ein stummer Revolverheld legt sich mit einer brutalen Bande an, deren Chef – nomen est omen – Loco genannt wird. Klaus Kinski und JeanLouis Trintignant duellieren sich in diesem Italowestern aus 1968 bis aufs Blut. Regisseur Sergio Corbucci schafft in der tief verschneiten Bergwelt Utahs ein Komplementärstück zu den sonnendurchfluteten Italowestern von Sergio Leone. Der elegische Soundtrack von Ennio Morricone verstärkt die trostlose Szenerie. Der Originaltitel trifft’s auf den Punkt: „Il grande silenzio“ist eine wortkarge Passion, die den Seher im Wohnzimmer mitfrieren lässt. Im Wilden Westen erwärmt keine Zentralheizung das tragische Schicksal eines Dorfes. Quentin Tarantino ließ sich von diesem Klassiker inspirieren, sein Winterwestern „The Hateful Eight“wirkt jedoch regelrecht geschwätzig. flo
„50 Words für Snow“von Kate Bush
Sipperella. Oder Albadune. Oder wie wär’s mit Terrablizza oder Shimmerglisten? Die britische Sängerin Kate Bush fordert 50 Wörter für Schnee. Sie hat für das 2011 überraschend erschienene Album „50 Words for Snow“Schauspieler Stephen Fry engagiert als Schneewort-Aufsager. Einmal will er Luft holen, da treibt Bush ihn an: „Mach schon, es fehlen noch 32, du weißt doch, nicht nur die Eskimos haben 50 Worte für Schnee.“Das ist nur ein Gerücht, aber daraus macht Bush ein Album, das sich Zeit lässt und als Metapher für Bedächtigkeit den Schnee nutzt. Für diesen hat die Sound-Bastlerin Bush ein Gefühl wie sonst nur Fräulein Smilla. bef
„Winterreise“von Franz Schubert
„Ich such im Schnee vergebens/ ihrer Tritte Spur, wo sie an meinem Arme durchschritt die grüne Flur“: Schöner kann man die Hoffnungslosigkeit eines unglücklich Liebenden nicht in Worte fassen, als es Wilhelm Müller gelungen ist. Franz Schubert komponierte dazu Musik von höchster Dringlichkeit. Linderung ist dem Mann nicht vergönnt. Auch die heißen Tränen können Eis und Schnee nicht durchdringen. Dabei steht das Lied „Erstarrung“am Anfang der „Winterreise“danach geht’s noch weiter hinab. flo
„Let it Snow“mit Dean Martin u. v. a.
Wie man mit unvorhergesehenen Schneemengen umgeht? Das kann eine Frage der inneren Haltung sein. Den Hut lässig zurechtrücken, eine Miene cooler Überlegenheit aufsetzen und ein flockiges Lied anstimmen: Das hätten wohl Dean Martin oder Frank Sinatra an dieser Stelle empfohlen. Die beiden Mitglieder des jeder Wetterlage trotzenden „Rat Pack“gehören zu den bekanntesten Interpreten des weißen Evergreens „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“, in dem die romantischen Seiten des Eingeschneitseins besungen werden. In das Lied legten die Komponisten Sammy Cahn und Jule Styne ihre ganze Vorstellungskraft: Sie schrieben es im kalifornischen Sommer, während einer Hitzewelle. pac
„Game of Thrones“Der Winter naht
Mit dem Titel der ersten Folge „Der Winter naht“war 2011 klar: Bei der Kultserie „Game of Thrones“sind Kälte, Schnee und Eiswind Symbole einer unheimlichen Bedrohung. Mit ihnen kommt von jenseits einer Mauer im Norden das Heer der „weißen Wanderer“und bedroht Königreiche im Süden. Und es heißt auch der tapferste, ehrlichste Held aller GoT-Helden Jon Snow?! Die Serie wurde Kult, weil sie – basierend auf der Romanreihe „A Song of Ice and Fire“von George R. R. Martin – dramatische Wendungen vollzieht und weil keine Serie zuvor einen bildgewaltigen, kulturellen Kontext entwirft, der von den Gemälden Bruegels und Boschs bis zu Filmzitaten der Gegenwart reicht. Noch ist Zeit, einzusteigen und die bisher etwa 70-Serien-Stunden aufzuholen, bevor im April die finale Staffel erscheint. Es kann vermutet werden, ach was!, es ist sicher, dass dann der Winter in den sieben Königslanden nicht mehr naht, sondern mit aller Härte zuschlägt. bef
„King Arthur“von Henry Purcell
Klingt es wie ein Schaben, das da die Streicher machen? Oder ist es ein Bibbern? Vielleicht auch ist in der Kälte die Stimme brüchig geworden, wenn der Cold Genius in der Oper „King Arthur“wie in Bruchstücken vom „everlasting snow“singt. Die Klage „I can scarcely move or draw my breath“kulminiert in Verzweiflung: „Let me, let me freeze again to death.“Eigentlich hat Henry Purcell diese Arie der Frost-Szene für Bass notiert. Doch seit sie der Popsänger Klaus Nomi in die Höhe des Countertenors katapultiert hat, kann man sich’s anders nicht mehr vorstellen: Hätte Kälte einen Klang, dann wäre der hoch. hkk
Weiße Klaviertasten bei Bugge Wesseltoft
Als Schöpfer eines nordisch-kühlen Elektrosounds wurde er eigentlich berühmt: Keyboarder Bugge Wesseltoft verschmolz Jazz mit Clubkultur und wurde zu einer Vaterfigur des norwegischen Nu Jazz. Doch als er sich 1997 allein mit dem Konzertflügel in den Schnee wagte, schmolzen Fans dahin: Auf seinem Soloalbum „It’s Snowing on My Piano“meditierte er über Weihnachtslieder, Traditionals sowie eigene Kompositionen – und lieferte damit den Soundtrack zur winterlichen Entschleunigung. pac
„Blancmange“Kulturgeschichtliche Jause
Weiß wie Schnee können auch Speisen sein. In Mittelalter und früher Neuzeit waren solche schneeweißen Gerichte an europäischen Höfen très chic. Damals setzte sich das französische Wort „Blancmange“durch, das heute noch in England jenen Pudding bezeichnet, dessen Weißheit die Zutaten Milch, Mandeln und Gelatine garantieren; kulturgeschichtlich korrekt wird er mit Rosenwassertropfen. Wer’s sauer mag: Auch ein Risotto ist als Blancmange möglich: mit Huhn oder Fisch, auch ein Klecks Mandelmousse bricht das Weiß nicht. hkk