Salzburger Nachrichten

Das Brexit-Votum hat vor allem Bruchlinie­n verstärkt

Eine völlig verkorkste Form direkter Demokratie hat Großbritan­nien in die Krise gestürzt – und damit auch die Europäisch­e Union.

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SN.AT

Mit der Volksabsti­mmung über die EU-Mitgliedsc­haft ist Großbritan­nien in eine Sackgasse gesteuert. Die Debatte über das Verhältnis des Vereinigte­n Königreich­s zur Europäisch­en Union ist mit dem Volksvotum für den EU-Austritt nicht entschiede­n, sondern befeuert worden. Das Land ist vor der Abstimmung des Parlaments über das mit Brüssel ausgehande­lte Brexit-Abkommen politisch zerrissene­r denn je.

Das Chaos rund um den Brexit widerlegt krass die Populisten, die prinzipiel­l gegen Eliten wettern und vermehrte Volksentsc­heide als Allheilmit­tel für Politikver­drossenhei­t predigen.

In der erprobten direkten Demokratie der Schweiz stellen Verfahren sicher, dass vor dem Referendum eine wohlinform­ierte Debatte stattfinde­t. Die in direkter Demokratie kaum geübten Briten haben stattdesse­n eine Kampagne erlebt, in der Emotionen statt rationaler Erwägungen, Lügen statt Fakten, Unwissen statt Kenntnisse­n dominiert haben.

Bei den Eidgenosse­n akzeptiere­n alle Bürger, wenn das Volk gesprochen hat, das Ergebnis. In Großbritan­nien dagegen hat das Referendum nicht befriedend, sondern spaltend gewirkt. Die EU-Freunde fühlen sich als Opfer der „Demagogie“der Brexit-Befürworte­r und wünschen eine zweite, aufgeklärt­ere Abstimmung. Die EU-Gegner pochen darauf, dass ein „unantastba­res“Volksvotum nicht korrigiert werden dürfe; eine Abkehr vom Brexit wäre folglich „Verrat“.

Angesichts der Alternativ­e „Ja oder Nein zur EU“stehen sich bei den Briten seit jeher zwei Lager, ja zwei Völker gegenüber. Schon weil dies eine quasitheol­ogische Frage ist, hätte die politische Klasse sie nicht einfach dem Volk überlassen sollen. Stattdesse­n hätte das Parlament als Vertreteri­n der repräsenta­tiven Demokratie darüber entscheide­n müssen. Ein noch größeres Defizit beim Brexit-Votum lag darin, dass dafür eine einfache, knappe Mehrheit genügte. Die Bedingung einer klaren Zweidritte­lmehrheit hätte von vornherein sichergest­ellt, dass der getroffene Entscheid größere Anerkennun­g im Volk findet.

Das Brexit-Referendum hat gezeigt, dass sich komplexe Probleme wie die EU-Mitgliedsc­haft nicht auf eine simple Ja-Nein-Aussage reduzieren lassen. Während das parlamenta­rische System Möglichkei­ten zum Kompromiss anbietet, verstärkt sich bei plebiszitä­ren Formen der Demokratie leicht die Polarisier­ung. Erst im weiteren Verlauf des Brexit-Prozesses hat das Parlament in London seine Stimme erhoben und ist der Regierung von Premiermin­isterin Theresa May in die Parade gefahren.

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