Das Brexit-Votum hat vor allem Bruchlinien verstärkt
Eine völlig verkorkste Form direkter Demokratie hat Großbritannien in die Krise gestürzt – und damit auch die Europäische Union.
Mit der Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft ist Großbritannien in eine Sackgasse gesteuert. Die Debatte über das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union ist mit dem Volksvotum für den EU-Austritt nicht entschieden, sondern befeuert worden. Das Land ist vor der Abstimmung des Parlaments über das mit Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen politisch zerrissener denn je.
Das Chaos rund um den Brexit widerlegt krass die Populisten, die prinzipiell gegen Eliten wettern und vermehrte Volksentscheide als Allheilmittel für Politikverdrossenheit predigen.
In der erprobten direkten Demokratie der Schweiz stellen Verfahren sicher, dass vor dem Referendum eine wohlinformierte Debatte stattfindet. Die in direkter Demokratie kaum geübten Briten haben stattdessen eine Kampagne erlebt, in der Emotionen statt rationaler Erwägungen, Lügen statt Fakten, Unwissen statt Kenntnissen dominiert haben.
Bei den Eidgenossen akzeptieren alle Bürger, wenn das Volk gesprochen hat, das Ergebnis. In Großbritannien dagegen hat das Referendum nicht befriedend, sondern spaltend gewirkt. Die EU-Freunde fühlen sich als Opfer der „Demagogie“der Brexit-Befürworter und wünschen eine zweite, aufgeklärtere Abstimmung. Die EU-Gegner pochen darauf, dass ein „unantastbares“Volksvotum nicht korrigiert werden dürfe; eine Abkehr vom Brexit wäre folglich „Verrat“.
Angesichts der Alternative „Ja oder Nein zur EU“stehen sich bei den Briten seit jeher zwei Lager, ja zwei Völker gegenüber. Schon weil dies eine quasitheologische Frage ist, hätte die politische Klasse sie nicht einfach dem Volk überlassen sollen. Stattdessen hätte das Parlament als Vertreterin der repräsentativen Demokratie darüber entscheiden müssen. Ein noch größeres Defizit beim Brexit-Votum lag darin, dass dafür eine einfache, knappe Mehrheit genügte. Die Bedingung einer klaren Zweidrittelmehrheit hätte von vornherein sichergestellt, dass der getroffene Entscheid größere Anerkennung im Volk findet.
Das Brexit-Referendum hat gezeigt, dass sich komplexe Probleme wie die EU-Mitgliedschaft nicht auf eine simple Ja-Nein-Aussage reduzieren lassen. Während das parlamentarische System Möglichkeiten zum Kompromiss anbietet, verstärkt sich bei plebiszitären Formen der Demokratie leicht die Polarisierung. Erst im weiteren Verlauf des Brexit-Prozesses hat das Parlament in London seine Stimme erhoben und ist der Regierung von Premierministerin Theresa May in die Parade gefahren.