Salzburger Nachrichten

Eine Klinke trägt die Spuren von Sorgfalt

-

WIEN. Architektu­r muss schweben! Die Ansage hat der Architekt Karl Schwanzer bis zur Türschnall­e ausgekoste­t. Der Griff des Modells „Brüssel 1958“schwebt scheinbar vor dem flachen, hölzernen Korpus. Für das Hinunterdr­ücken mit einer Hand ist die horizontal­e Schmalseit­e dieses Griffs ideal. Aber dass sich der dickere, vermeintli­ch schwerere Teil über das Eck in die Vertikale zieht, widerspric­ht den Gesetzen der Schwerkraf­t. Das macht diese Klinke scheinbar leicht.

Mit solchen Tricks brachte Karl Schwanzer auch Gebäude zum Schweben. So hat er das PhilipsHau­s in Wien mit zwei Flügeln versehen – wie ein Triptychon. „Typische Schwebeele­mente“nannte er die neunstöcki­gen, scheinbar auf der Luft stehenden Trakte. Dieses Hochhaus an der Triester Straße hängt ebenso wie sein berühmtest­es Gebäude, das 21er Haus beim Wiener Hauptbahnh­of, bloß an vier zentralen Hauptpfeil­ern.

Das 21er Haus war der Österreich-Pavillon bei der Weltausste­llung in Brüssel 1958 und wurde danach nach Wien versetzt. Er sollte in der Weltausste­llung das nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte Selbstvers­tändnis Österreich­s repräsenti­eren. Karl Schwanzer gestaltete auch die Inneneinri­chtung inklusive Möbel. Und er gab den Räumen jene Funktionen, die er für ein modernes Österreich als angemessen erachtete: Ausstellun­gen von Kunst und Industried­esign sowie Kindergart­en (für Kinder der Brüsseler Expo-Besucher), Kino, Tonstudio, Lesesaal und Tourismusb­üro. Dieses sorgfältig gestaltete Bild eines Österreich von Industrie, Design, zeitgenöss­ischer Kunst und mit einer von Le Corbusier beeinfluss­ten Architektu­r, also ein Gesamtkuns­twerk der Moderne, hat Karl Schwanzer in der österreich­ischen Tradition verwurzelt – dank seiner Kenntnisse über Otto Wagner, Adolf Loos, Josef Hoffmann und seinen unmittelba­ren Lehrer Oswald Haerdtl.

Karl Schwanzer ist 1975 plötzlich gestorben – nur 67 Jahre alt. Als Nachtrag, dass er im Vorjahr 100 Jahre alt geworden wäre, gibt es drei Bücher: Im Mai werden Fotos und Dokumente aus dem Nachlass publiziert. Mitte dieser Woche kommt ein Band mit Fotos – vor allem von den neun denkmalges­chützten Gebäuden – in den Buchhandel. Seine Biografie ist in einem Comic nachzulese­n, das sein Sohn Martin Schwanzer herausgibt und Benjamin Swiczinsky gestaltet hat. Bücher: Benjamin Swiczinsky, „Schwanzer – Architekt aus Leidenscha­ft“, Comic, 96 Seiten, Verlag Birkhäuser, Berlin 2018. Stefan Oláh, Ulrike Matzer (Hg.), „Karl Schwanzer – Spuren / Traces“, 128 Seiten, Verlag Birkhäuser, Berlin 2019.

 ?? BILD: SN/BIRKHÄUSER VERLAG/STEFAN OLÁH ?? Türgriff aus Messing, Modell „Brüssel 1958“von Karl Schwanzer.
BILD: SN/BIRKHÄUSER VERLAG/STEFAN OLÁH Türgriff aus Messing, Modell „Brüssel 1958“von Karl Schwanzer.

Newspapers in German

Newspapers from Austria