Sie will keinen Millimeter nachgeben
Den Misstrauensantrag der Opposition hat Premierministerin May überstanden. Brüssel will eine rasche Ansage, wie es weitergeht.
LONDON. Einen Tag nach der historischen Niederlage für ihren Brexit-Deal mit Brüssel hat die britische Premierministerin Theresa May einen Misstrauensantrag der Opposition überstanden. Eine Mehrheit von 325 zu 306 der Abgeordneten sprach May und ihrem Kabinett am Mittwochabend im Parlament in London das Vertrauen aus. May kündigte daraufhin an, umgehend mit Oppositionspolitikern Gespräche über den Brexit-Kurs zu beginnen.
In einer leidenschaftlichen Debatte hatte der britische Oppositionschef Jeremy Corbyn zuvor eine Neuwahl gefordert. Die heftige Niederlage bei der Abstimmung über den Brexit-Deal habe gezeigt, dass die Regierung nicht in der Lage sei, weiterzumachen. „Diese Regierung hat unser Land im Stich gelassen, sie kann nicht regieren“, sagte der Labour-Politiker.
May konterte, eine Neuwahl sei „das Schlechteste, was wir machen können“. Sie würde die Spaltung im Land vertiefen, Chaos und Stillstand bringen.
Die EU fordert jetzt schnelle Ansagen aus London, wie es nun weitergehen soll. EU-Spitzenpolitiker schlossen eine Neuverhandlung des Abkommens aus. Kommenden Montag muss May dem britischen Parlament ihren Plan B präsentieren. Wie der aussehen könnte, bleibt allerdings unklar.
Theresa May mag an diesem Abend gewonnen haben. Doch allzu groß schien die Freude bei der britischen Premierministerin am Mittwoch nicht zu sein. Sie wirkte müde, als sie am Abend im Parlament an das Pult trat. Zuvor hatte der Sprecher verkündet, dass der von Oppositionschef Jeremy Corbyn gestellte Misstrauensantrag gegen die Regierung gescheitert war. Eine Mehrheit von 325 zu 306 der Abgeordneten sprach May das Vertrauen aus. Woraufhin die Regierungschefin ihre Hand in Richtung Opposition ausstreckte. Sie lade die Vorsitzenden der anderen Parteien dazu ein, sich einzeln mit ihr zu treffen, sagte sie, bemüht, sich kämpferisch zu präsentieren.
Aber tief saß die Demütigung vom Abend zuvor, als eine unerwartet große Mehrheit der Abgeordneten das zwischen London und Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen abgelehnt hatte. Auch der Sieg der Vertrauensabstimmung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die britische Regierung in ihrer bislang schwersten politischen Krise steckt. Dementsprechend übergoss die britische Presse die Regierung mit Spott und Häme (siehe unten).
71 Tage vor der Scheidung von der Gemeinschaft am 29. März weiß niemand auf der Insel, wie es weitergeht. Die Meinungen sind so zerfasert, dass bislang keiner der mittlerweile unzähligen Vorschläge im Parlament, wie Großbritannien aus der EU scheiden soll, eine Mehrheit genießt. Und die Bevölkerung hat ihre Meinung Umfragen zufolge kaum geändert. Zwar will immerhin eine knappe Mehrheit der Briten an Mays Regierung festhalten, für sechs von zehn Briten (61 Prozent) aber steckt ihr Land in einer handfesten Krise, wie eine repräsentative Umfrage ergab.
Theresa May lieferte jedenfalls auch gestern keine Antworten auf die Fragen der Zukunft. „Ist es nicht der Fall, dass jeder andere ehemalige Premierminister, der eine Niederlage solchen Ausmaßes erlebt hätte, zurückgetreten wäre?“, fragte Corbyn, der seit Monaten auf eine Neuwahl spekuliert. Da die Regierungschefin in gewohnter Standfestigkeit nicht plant, freiwillig aus der Downing Street auszuziehen, hatte der Labour-Vorsitzende nach Mays Schlappe keine andere Wahl, als das Misstrauensvotum anzuberaumen – auch wenn die Chancen auf einen Erfolg beinahe aussichtslos waren. Obwohl rebellische Hinterbänkler in den konservativen Reihen erst im Dezember versuchten, ihre Chefin zu stürzen, und offen gegen May meutern, wollten die Brexit-Hardliner nicht das Risiko eingehen, dass am Ende Corbyn die Regierungsgeschäfte übernehmen könnte.
Die Position von May könnte trotz der überstandenen Misstrauensabstimmung schwächer nicht sein. Beobachter zeigten sich skeptisch, ob sie die kommenden Tage politisch überleben kann. Doch auf Theresa May wurden schon unzählige Abgesänge verfasst. Sie hielt durch – und an ihrer Macht fest. Kommenden Montag muss sie dem Parlament einen Plan B präsentieren. Wie der aussehen könnte, ist unklar. Als wahrscheinlich gilt, dass May versuchen wird, parteiübergreifend eine Mehrheit für einen Kompromiss zu finden, um dann bei der EU um weitere Zugeständnisse zu bitten. Dann würde das Abkommen abermals vor dem Parlament landen.
Während also die „schmutzige Scheidung“Großbritanniens und der EU noch lang nicht über die politische Bühne gegangen ist, widmen sich manche Briten schon ganz pragmatischen Vorbereitungen für die Zeit danach. Eine Firma aus Leeds bietet seit vergangenem Monat sogenannte Brexit-Boxes an. Für stolze 295 Britische Pfund (333 Euro) sind darin tiefgekühltes Essen und ein Wasserfilter verpackt; damit kann man dem Anbieter zufolge rund einen Monat überleben.