Ein EU-Skeptiker führt die Opposition
Labour-Chef Jeremy Corbyn wittert im Brexit-Chaos seine Chance auf eine Neuwahl.
Eine Herzensangelegenheit ist der Verbleib in der EU für Jeremy Corbyn nicht. Der 69Jährige, der sich selbst als demokratischen Sozialisten bezeichnet, kritisiert die Europäische Union vielmehr leidenschaftlich als „neoliberales Projekt“. Obschon er jahrzehntelang als überzeugter EU-Skeptiker aufgetreten ist, steht er mit Labour seit 2015 dennoch einer Partei vor, die offiziell den Austritt aus dem Brexit verhindern will.
Wie viele Labour-Politiker musste Corbyn sich die Kritik gefallen lassen, vor dem Brexit-Referendum nicht für das „Remain“-Lager gekämpft zu haben. Wie genau sich der Parteichef den Brexit vorstellt, ist bis heute unklar. Klar ist hingegen: Er drängt auf eine Neuwahl und will May an der Regierungsspitze ablösen.
In die Politik kam Corbyn in den 1970er-Jahren, nachdem er mehrere Jahre als Gewerkschaftsfunktionär gearbeitet hatte. Dem britischen Unterhaus gehört er seit 1983 an. Die meiste Zeit verbrachte er dort als Hinterbänkler. Er galt in der eigenen Partei als notorischer Querschießer und mit den Jahren zunehmend als kauziger Alt-Linker.
Genau an diesem Bild finden viele junge Briten seit 2015 aber ganz offensichtlich Gefallen. Nachdem Corbyn damals überraschend als Ed Milibands Nachfolger an die Parteispitze gewählt wurde, brach ein Hype um den Politiker aus. Junge Parteianhänger feierten ihn wie einen Revolutionär. Seiner Partei brachte er in den folgenden Jahren Tausende neue Mitgliedschaften ein, heute ist Labour mit mehr als 500.000 Mitgliedern wieder die größte Partei in der EU.
Warum gerade ein 69-Jähriger seiner Partei einen Schwung neuer, junger Mitglieder bescheren konnte? Zum einen fühlt sich Corbyn offenbar gar nicht alt, sondern im Gegenteil sehr jung und vital: „Ich bin sehr jung. Ich bin gesund. Ich bin Vegetarier, ich esse jeden Morgen meinen Porridge. Ich rauche nicht, ich trinke nicht“, sagte er kürzlich im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
Das Geheimnis seines Erfolgs ist aber Corbyns konsequent linker Kurs, der für kontinentaleuropäische Verhältnisse gar nicht so links ist. Corbyn tritt beispielsweise für die Abschaffung der Studiengebühren in Großbritannien ein, er ist für die Rücknahme von Privatisierungen staatlicher Dienstleister wie der Post oder der Eisenbahn und kritisiert die Sparpolitik der EU. Als erklärter Pazifist ist Corbyn seit Jahrzehnten in der Antikriegsbewegung engagiert. Laut BBC stimmte er in seiner politischen Karriere im britischen Parlament gegen jede militärische Aktion, die eine Regierung vorgeschlagen hatte. Am prominentesten war seine Kritik am UNO-geführten Einsatz im Kosovo und am Irak-Krieg. Heute wettert Corbyn gegen die NATO- Mitgliedschaft Großbritanniens genauso wie gegen militärische Angriffe in Syrien.
Massive Kritik hat Corbyn die Unterstützung der Palästinenser im Nahost-Konflikt eingebracht. Zudem werden seit Jahren gegen ihn und seine Partei Antisemitismusvorwürfe erhoben. Im August 2018 gab Corbyn in einem Video öffentlich zu, dass seine Oppositionspartei ein Problem mit Antisemitismus habe. Disziplinarverfahren gegen antisemitische Parteimitglieder seien zu langsam und zu zaghaft betrieben worden.
Sein Privatleben will Corbyn, der oft mit dem Fahrrad unterwegs ist, am liebsten aus den Medien heraushalten. Corbyn ist zum dritten Mal verheiratet, mit der gebürtigen Mexikanerin Laura Alvarez. Mit seiner geschiedenen zweiten Frau hat er drei Kinder. Die Ehe zerbrach an einem Streit, der sich um die Auswahl der richtigen Schule für einen der gemeinsamen Söhne drehte. Corbyn soll auf eine öffentliche Schule bestanden haben, die nach Ansicht seiner damaligen Frau nicht geeignet war.