„Es ist nicht zu spät, aber sehr knapp“
Auch auf einen Austritt ohne Abkommen sei Europa vorbereitet, sagt der Brexit-Verhandler Gregor Schusterschitz.
Der Spitzendiplomat und Jurist Gregor Schusterschitz vertritt Österreich im Kreis der 27 EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen. Er ist Botschafter in Luxemburg, pendelt aber seit dem Brexit-Referendum mehrmals wöchentlich zu den Verhandlungsrunden nach Brüssel, wo die „Salzburger Nachrichten“am Tag nach der Brexit-Abstimmung mit ihm gesprochen haben. SN: Der Austrittsvertrag von Premierministerin Theresa May ist im britischen Parlament krachend durchgefallen. Hat Sie das überrascht? Gregor Schusterschitz: Die Niederlage von Theresa May war größer als erwartet, aber nicht wirklich überraschend, weil es seit Dezember Anzeichen dafür gab, dass das eine Hängepartie bis März wird. SN: Was passiert jetzt? Die EU kann gar nichts tun, solange nicht klar ist, wie die britische Seite aus dem Schlamassel rauszukommen gedenkt. Die Ablehnung für das Abkommen kommt von zwei verschiedenen Seiten. Den Abgeordneten von den regierenden Tories geht es um den aufgebauschten „Backstop“(Auffanglösung) für Nordirland. Die Labour-Parlamentarier lehnen die Pläne für das zukünftige Verhältnis ab. Zwischen diesen beiden muss das britische politische System eine Lösung herstellen und entscheiden, was wichtiger ist. SN: Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Und geht sich das bis Ende März aus? Es ist noch nicht zu spät, aber sehr knapp. Die Ablehnung beider Seiten bezieht sich auf Dinge, die überwiegend nach 2021 geschehen. Es bringt also nicht viel, wenn man den Austrittsvertrag ändert, weil der nur die Zeit bis dahin betrifft. SN: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vorige Woche den kryptischen Satz gesagt: „Lasst mich nur machen.“Wie interpretieren Sie das? Präsident Juncker hat in den vergangenen Wochen eine große Rolle gespielt, er kann aber nur das tun und vorschlagen, wofür die Kommission ein Mandat der 27 EUStaatsund Regierungschefs hat. Für jede weitere Vorgangsweise ist eine Entscheidung der Staats- und Regierungschefs notwendig. SN: Können Sie sich vorstellen, dass es Nachverhandlungen zwischen London und Brüssel gibt? Bisher wird das ja von allen Seiten ausgeschlossen. Das hängt davon ab, wie die britische Seite einen „No Deal“(Austritt ohne Abkommen, Anm.) verhindern will. Das Problem ist aber, wie gesagt, nicht der Austrittsvertrag, sondern in Wahrheit etwas anderes. SN: Das klingt ziemlich verfahren. EU-Chefverhandler Michel Barnier hat heute gesagt, man war einem „No Deal“noch nie näher. Steuert also alles auf einen ungeordneten Abgang Großbritanniens mit allen negativen Konsequenzen zu? Die Wahrscheinlichkeit hat durch die Abstimmung im Unterhaus zugenommen. Wir bereiten uns aber seit Monaten darauf vor. Wir hatten am Mittwoch wieder eine lange Sitzung in Brüssel, bei der es um Luftfahrt, Straßentransport und Visa ging. SN: Können diese Notfallmaßnahmen zeitgerecht beschlossen werden, damit Briten in der EU nicht sofort Visa brauchen und Flugzeuge weiter landen und starten können? Das geht sich durchaus aus, jedenfalls in Österreich. Es hat auch schon intensive Vorarbeiten gegeben. Wobei ich nicht sagen kann, wie das in den Häfen in den Niederlanden oder Belgien mit den Zollkontrollen sein wird oder in Nordirland. SN: Als Ausweichmanöver gilt eine Verschiebung des Austrittsdatums 29. März. Wird das passieren? Realistisch ist das nur, wenn es eine klare Roadmap gibt, wie es weitergeht, etwa für eine zweite Abstimmung, und die Zeit nicht nur für weiteres innenpolitisches Hickhack in London genutzt wird. SN: Einer Verlängerung der Zweijahresfrist bis zum Austritt müssen laut Artikel 50 des EU-Vertrags alle Staaten der Europäischen Union zustimmen. Würde die Einigkeit der EU auch in diesem Fall halten? Ich glaube schon. Die 27 EU-Staaten sind immer bereit, Vernunft walten zu lassen, wenn es einen klaren Fahrplan gibt. SN: War die ganze Arbeit von Michel Barnier, seinen britischen Verhandlungspartnern und Ihnen allen am Scheidungsvertrag vergeblich? Ich will das Abkommen noch nicht für tot erklären. Ausschlaggebend wird aber sein, was May am Montag vorschlägt.