Salzburger Nachrichten

Europa kann nur abwarten, Tee trinken und sich vorbereite­n

Die EU hält weiter zusammen und signalisie­rt Bereitscha­ft für eine Verschiebu­ng des Brexit, wenn London das will.

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Es ist selten, dass die drei zentralen EU-Institutio­nen das Gleiche sagen. Am Tag nach der klaren Ablehnung des EUAustritt­svertrags im britischen Unterhaus ist es passiert. EU-Kommission, Vertreter des Rats der Mitgliedss­taaten und EU-Parlament sagten unisono: „Großbritan­nien muss jetzt sagen, was es will.“

Neuverhand­lungen des fast 600 Seiten starken Scheidungs­abkommens werde es nicht geben. Sollte die Londoner Regierung aber ihre eigenen roten Linien lockern, wäre die EU jederzeit bereit, neu über die zukünftige­n Beziehunge­n zu reden, unterstric­h EU-Chefverhan­dler Michel Barnier im EU-Parlament, wo am Mittwoch das britische Abstimmung­sergebnis diskutiert wurde.

Die gemeinsame Linie in den Stellungna­hmen gilt in Brüssel als Zeichen dafür, dass die verbleiben­den 27 EU-Staaten beim Brexit weiter einig sind. Auch wenn ein „No Deal“, also ein Austritt des Vereinigte­n Königreich­s ohne Abkommen, wahrschein­licher wird und einige Länder davon stärker betroffen wären als andere. Das Risiko für einen Chaos-Brexit am 29. März 2019 war laut Barnier „noch nie so groß“. Die EU-Kommission sieht die vor Monaten gestartete­n Vorbereitu­ngsmaßnahm­en weit fortgeschr­itten. Auch viele Regierungs­chefs betonten, ihre Länder seien für einen „No Deal“bereit. Irland würde einen ungeordnet­en Austritt am stärksten spüren. Irlands Außenminis­ter Simon Coveney meinte: „Es wird noch so viel geschehen in Westminste­r in den nächsten Tagen, bevor deutlich wird, was Großbritan­nien will. Wir müssen die Nerven behalten.“

Vereinzelt gab es Signale, dass eine Verschiebu­ng des Brexit-Datums nicht ausgeschlo­ssen sei, sollte die Regierung in London einen solchen Schritt gut begründen. Zum jetzigen Zeitpunkt sei eine Verschiebu­ng aber nur hypothetis­ch, zumal weder die Premiermin­isterin Theresa May noch jemand aus deren Umfeld dies bisher gefordert habe, sagte Frankreich­s Europamini­sterin Nathalie Loiseau. Sollte London um mehr Zeit bitten, werde das in Europa wohlwollen­d geprüft werden, davon ist auch der niederländ­ische Regierungs­chef Mark Rutte überzeugt. Allerdings müsse London mit konkreten Lösungsvor­schlägen kommen.

Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel plädierte erneut dafür, den durch den britischen Austritt aus der EU entstehend­en Schaden „so klein wie möglich“zu halten. „Deshalb werden wir auf jeden Fall versuchen, eine geordnete Lösung zu finden.“

Im Europaparl­ament in Straßburg war die Stimmung gedrückt. Nur der britische Abgeordnet­e Nigel Farage, vehementes­ter Vorkämpfer für einen Austritt seines Landes, hatte zur Feier des Tages Socken mit dem Union Jack angezogen. „Wenn wir einen No-Deal-Brexit haben, werden wir ein unabhängig­es Land sein“, meinte er und fragte: „Welcher Preis ist zu hoch für die Freiheit?“

Manfred Weber, Fraktionsc­hef der Europäisch­en Volksparte­i und deren Spitzenkan­didat für die EUWahl, nutzte seine Rede für einen Appell an die Europäer: „Folgen Sie nicht den Populisten. Es ist leichter zu zerstören als aufzubauen.“

Der britische Tory-Abgeordnet­e und Fraktionsc­hef der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer, Syed Kamall, fühlt sich an das surreale Szenario aus dem alten Eagles-Song „Hotel California“erinnert. Man habe das Gefühl, aus der EU auszucheck­en, aber trotzdem niemals wegzukomme­n. Der schottisch­e Mandatar Alyn Smith, der für seine Regionalpa­rtei SNP im EU-Parlament sitzt, will jedoch gar nicht weg: „Ich vertrete Schottland. Und unser Standpunkt ist klar: Wir wollen in der Union bleiben.“

Am EU-Parlament soll es nicht liegen. Mehr als 100 Mitglieder haben die Briten per offenem Brief eingeladen, den Brexit zu überdenken. „Wenn Sie bleiben wollen, werden Sie mit offenen Armen aufgenomme­n“, versichert auch der österreich­ische Sozialdemo­krat Josef Weidenholz­er den Briten.

Vorerst kann die EU nur abwarten und Tee trinken. Im EU-Parlament tut man das passenderw­eise aus Tassen der britischen Porzellanm­anufaktur Steelite. Das Werk liegt in Stoke-on-Trent.

Die Industries­tadt in den englischen Midlands war jahrzehnte­lang eine Labour-Hochburg. Am 23. Juni 2016 stimmten dort knapp 70 Prozent für den Brexit.

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„Noch nie war das No-DealRisiko so groß.“Michel Barnier, EU-Brexit-Verhandler

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