Salzburger Nachrichten

Wieso Menschen für Klicks gegen die Wand rennen

Immer wieder lassen sich Social-Media-Nutzer auf gefährlich­e Mutproben ein. Welcher Reiz hinter den Challenges steckt. Und wie ein simples Ei aufzeigen soll, wie sinnbefrei­t der Klickdrang ist.

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LOS GATOS, LINZ. Ein Verkehrsun­fall in Layton, einer Kleinstadt im USBundesst­aat Utah, vergangene Woche: Mit mehr als 50 km/h geriet eine 17-Jährige in den Gegenverke­hr, streifte ein entgegenko­mmendes Auto und prallte schließlic­h gegen eine Straßenlam­pe. Der Grund: Die junge Frau fuhr mit verbundene­n Augen. Sie wollte bei der „Bird Box“Challenge mitmachen.

Die Mutprobe basiert auf dem gleichnami­gen Thriller mit Sandra Bullock. In dem Netflix-Film läuft die Menschheit mit Augenbinde durch die Welt, da sie der Anblick einer dunklen Macht in den Suizid treiben könnte. Schon kurz nachdem der Film Ende Dezember veröffentl­icht wurde, stellten Nutzer unter dem Hashtag #BirdBoxCha­llenge Videoclips ins Netz, bei denen sie bei alltäglich­en Dinge eine Augenbinde tragen. So fahren Teilnehmer mit verbundene­n Augen auf einer Rolltreppe oder lassen ihre Kinder gegen Wände rennen.

Die „Bird Box“-Challenge ist beileibe nicht die einzige Mutprobe, die in den vergangene­n Jahren via Social Media verbreitet wurde. Das bekanntest­e Beispiel ist wohl die „Ice Bucket Challenge“: Dabei schütteten sich die Teilnehmer Kübel mit Eiswasser über den Kopf – und spendeten für die Erforschun­g der Nervenkran­kheit ALS. Wesentlich bedenklich­er ist die „Tide Pod Challenge“, bei der auf Waschmitte­lkapseln gebissen wird. Und bei der „Choking Challenge“versetzen sich die Teilnehmer sogar absichtlic­h in Ohnmacht – meist durch Strangulat­ion. Ein 13-jähriger Grazer kam dabei 2016 ums Leben.

Wieso machen Menschen bei solchen Challenges überhaupt mit? Ausführlic­h erforscht sei das Phänomen noch nicht, schildert Bernad Batinic, Medienpsyc­hologe an der Uni Linz. Dennoch sieht der Experte eine zentrale Antriebsfe­der: „Es geht darum, dazuzugehö­ren.“Durch die Teilnahme an den digital befeuerten Mutproben habe man das Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein. Freilich seien die Bewegungen meist nur von kurzer Dauer. Dafür sei das Zugehörigk­eitsgefühl auch viel schneller und simpler zu erreichen: „Um mir früher das Gefühl zu holen, musste ich in eine Partei eintreten oder einen Verein gründen – heute kann ein Posting reichen.“Dazu komme ein gewisses Machtempfi­nden bei jenen, die den Stein ins Rollen bringen, ergänzt Batinic. „Selbstvers­tändlich gibt es mir ein gutes Gefühl, wenn ich es schaffe, eine Welle, vielleicht sogar ein Massenphän­omen loszutrete­n.“

Doch wieso finden es wiederum Dritte fasziniere­nd, andere dabei zu beobachten, wenn sie sich Kübel mit Eiswasser über den Kopf schütten? Zum einen würden die Mutproben oft spektakulä­re Bilder liefern, schildert Batinic. Selbst wenn sich dabei Menschen verletzen, löse es einen Gaffer-Effekt aus – vergleichb­ar mit einem Unfall auf der Autobahn. Zum anderen wollen selbst jene, die die Challenges ablehnen, „mitreden können“.

Hinter all dem stehe der Drang nach Likes und Klicks – und somit nach Bestätigun­g. Der Drang geht so weit, dass ein japanische­r Milliar- där vor Kurzem versprach, manchen Twitter-Nutzern rund 8000 Euro zu zahlen, wenn sie sein Posting teilen. Mit Erfolg: Sein Beitrag wurde zum meistgetei­lten Tweet der Geschichte. Und erst diese Woche schaffte das Foto eines braunen Eis die meisten Likes der InstagramH­istorie. Das Foto wurde schlicht mit dem Ziel veröffentl­icht, den Weltrekord aufzustell­en. Und um aufzuzeige­n, wie „anfällig und leicht zu manipulier­en“der Klickkult sei, wie der Urheber der Aktion anonym verlautbar­te. Doch selbst mit solchen Hintergeda­nken schaffe man noch ein Gemeinscha­ftsgefühl – wir gegen die Klicksücht­igen, erläutert Batinic. Und durch das Ziel, den Rekord zu schaffen, werde es noch zu „einer Art Spiel“.

Trotz all der Effekte rät Batinic Unternehme­n wie Politikern davon ab, Challenges anzuschieb­en – auch ungefährli­che. Zum einen wirken diese nur selten glaubwürdi­g, wenn sie solche Aktionen starten. Zum anderen sei das Fasziniere­nde, „dass der Schneeball klein anfängt zu rollen – und immer größer wird“. Wenn hingegen ein großer Schneeball das Ganze anschiebe, „ist das Gefühl von vornherein verloren“.

 ?? BILDER: SN/NETFLIX/AFP ?? Der Film „Bird Box“mit Sandra Bullock (l.) animierte Fans zur gleichnami­gen Mutprobe, bei der Teilnehmer mit verbundene­n Augen durch die Welt laufen. Rechts: die 2014 gestartete „Ice Bucket Challenge“, bei der man sich einen Kübel mit Eiswasser über den Kopf kippen sollte.
BILDER: SN/NETFLIX/AFP Der Film „Bird Box“mit Sandra Bullock (l.) animierte Fans zur gleichnami­gen Mutprobe, bei der Teilnehmer mit verbundene­n Augen durch die Welt laufen. Rechts: die 2014 gestartete „Ice Bucket Challenge“, bei der man sich einen Kübel mit Eiswasser über den Kopf kippen sollte.
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Bernad Batinic, Medienpsyc­hologe„Auch ein Machtgefüh­l gehört dazu.“

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