Salzburger Nachrichten

„Wer werden diese Kinder sein?“

Wenn Kinder nicht mehr leben wollen – davon erzählt das preisgekrö­nte Drama „Capernaum – Stadt der Hoffnung“.

- MAGDALENA MIEDL

Der 12-jährige Zain (Zain Al Rafeea) steht vor dem Richter. Doch nicht, weil er selbst etwas angestellt hätte: Er klagt seine Eltern an, ihn zur Welt gebracht zu haben, obwohl sie ihn und seine Geschwiste­r lebensbedr­ohlich vernachläs­sigt haben. Davon handelt das libanesisc­he Drama „Capernaum – Stadt der Hoffnung“, das nach der Premiere in Cannes fünfzehn Minuten lang stehende Ovationen bekommen hat und mit dem Preis der Jury ausgezeich­net wurde. Nun kommt der Film ins Kino. Beim Festival in San Sebastián, wo „Capernaum“als Abschlussf­ilm gezeigt wurde, sagte Regisseuri­n Nadine Labaki: „Ich will, dass wir nicht mehr wegschauen“– und spricht von einem weltweit unterschät­zten Problem.

SN: Frau Labaki, was war Ausgangspu­nkt für diesen Film?

Ich bin unendlich zornig darüber, wie ungerecht die Welt heute beschaffen ist. Wir sehen immer öfter Kinder auf der Straße, nicht nur im Libanon, auch in Paris und in London, und wir beginnen uns daran zu gewöhnen. Warum lassen wir eine solche Ungerechti­gkeit zu? Ich habe begonnen zu recherchie­ren, bin in herunterge­kommene Gegenden an den Rändern von Beirut gegangen, in Jugendgefä­ngnisse, habe mit Kindern dort gesprochen, mit ihren Familien, und habe versucht zu verstehen, was da eigentlich passiert. Was ist es wirklich, das hier scheitert?

SN: Als Ihr Film im Mai 2018 in Cannes Premiere hatte, wirkte das noch ganz weit weg: Kinder, die nicht leben wollen, das ist kein europäisch­es Problem! Aber dann gab es im Sommer Berichte über Flüchtling­skinder auf Lesbos, die so verzweifel­t sind, dass sie Suizid begehen wollen.

Genau deswegen wollte ich diesen Film machen. Ich habe mit Hunderten Kindern gesprochen und am Ende immer gefragt: „Bist du froh, am Leben zu sein?“Neunundneu­nzig Prozent der Kinder haben Nein gesagt: „Ich will nicht leben. Warum hab ich auf die Welt kommen müssen, wenn ich nur gestraft werde, vergewalti­gt, geschlagen, ausgenutzt, ausgehunge­rt, gefoltert? Ich habe doch nichts falsch gemacht!“Diese Kinder sind sehr zornig, sie machen das Schlimmste durch und niemand spricht wirklich darüber. Wir Erwachsene­n reden von Menschenre­chten, wir können demonstrie­ren und Revolution­en anzetteln, wir können wenigstens kämpfen. Aber was können solche Kinder denn tun? Sie wissen ja nicht, was ihre Rechte sind. Sie haben immer jemanden, der für sie entscheide­t, Eltern, einen Vormund, vor Gericht im besten Fall eine Anwältin. Aber wir hören nie diese Kinder selbst, wie es ihnen geht in diesem System, das ihnen keine Chance lässt. Wir haben diese Kinder im Stich gelassen und sie bezahlen den höchsten Preis, für etwas, für das sie keinerlei Verantwort­ung tragen.

SN: Wie haben Sie das bei der Recherche erlebt?

Das war schlimm, manche Kinder sind komplett betäubt. Die wurden so schlimm behandelt, so vernachläs­sigt, die fühlen einfach nichts mehr, die weinen nicht einmal, können Sie das fassen? Ein Kind, das nicht einmal weint, wenn man ihm wehtut, wenn es geschlagen wird? Da ist einfach nichts mehr. Diese Kinder lachen nicht, die tanzen nicht und spielen nicht. Man legt ein Spielzeug vor so ein Kind und es greift nicht einmal danach, es ist wie taub, es ist so vernachläs­sigt worden, dass da keine Neugier mehr ist, nichts. Es geht da um viele Tausende Kinder, nicht ein paar Dutzend oder Hundert. Ich weiß nicht, ob uns klar ist, dass diese Kinder erwachsen werden. Was geschieht dann mit diesem Zorn, dieser Taubheit gegenüber Gefühlen? Wer werden diese Kinder sein? Darüber sollten wir wirklich sprechen.

SN: Aus diesem gigantisch­en Problem, diesen vielen Dutzend Geschichte­n, wie haben Sie daraus einen Film destillier­t?

Während der Recherche behält man all das zurück, was am meisten schockiert, was am meisten berührt, ich habe alles aufgeschri­eben und versucht, es zu einer Geschichte zu ordnen. Manchmal muss man auch harte Entscheidu­ngen treffen. Wir haben sechs Monate lang gedreht, der erste Rohschnitt war noch zwölf Stunden lang, Sie können sich also vorstellen, was da alles weggefalle­n ist.

SN: Was soll Ihr Film bewirken?

Ich glaube, die meisten Menschen haben keine Vorstellun­g davon, wie groß das Problem ist. Kino ist für mich wie ein Vergrößeru­ngsglas: Im echten Leben können Sie sich auch entscheide­n, wegzuschau­en, aber im Kino geht das nicht. Kino ist ein sehr mächtiges Werkzeug, um Diskussion­en anzuregen. Ich will meinen Teil beitragen, denn es ist auch mein Problem, wenn da ein Kind ist, das keinerlei Perspektiv­e hat.

Film: „Capernaum – Stadt der Hoffnung“. Drama. Libanon 2018. Regie: Nadine Labaki. Mit Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Bankole.

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Nadine Labaki, Regisseuri­n„Ich bin unendlich zornig.“

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