Schlafwandeln in stürmischen Zeiten
Kurz vor dem Jahrestreffen zeichnet das Weltwirtschaftsforum ein ernüchterndes Bild vom Zustand der Welt. Die globalen Risiken nehmen zu, aber es fehlt an der Bereitschaft, sie gemeinsam zu bewältigen.
LONDON, WIEN. Wenn kommende Woche wieder mehr als 3000 Teilnehmer zum Weltwirtschaftsforum (WEF) im Schweizer Bergort Davos anreisen, wird es an Gesprächsstoff nicht fehlen. Im „Global Risks Report“, den das WEF stets kurz vor dem Jahrestreffen präsentiert, findet sich ein Katalog an Themen, von denen jedes einzelne jede Menge politischen Sprengstoff birgt und wirtschaftliches Handeln erfordert.
Im Vorwort des 114 Seiten starken Berichts schreibt WEF-Präsident Borge Brende, „die Welt sieht sich einer wachsenden Zahl komplexer und verbundener Herausforderungen gegenüber“. Die Liste reicht vom schwächeren Wachstum und der anhaltenden ökonomischen Ungleichheit bis zum Klimawandel, geopolitischen Spannungen und dem steigenden Tempo der vierten industriellen Revolution.
Man werde beim Bewältigen zu kämpfen haben, wenn man nicht zusammenarbeite, schreibt Brende. Der Bedarf für einen gemeinsamen Ansatz beim Lösen globaler Probleme sei noch nie so groß gewesen. Während aber die globalen Risiken zunehmen, schwäche sich der kollektive Wille, sie zu bekämpfen, ab. Stattdessen nehme die Spaltung zu.
„Schlafwandelt die Welt in eine Krise“fragen die Autoren am Beginn des Berichts, für den sie rund tausend Experten aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft befragt haben. Dabei wurden erstmals drei umweltrelevante Themen als die größten Risiken für eine Krise ausgemacht – Wetterextreme, der mangelnde Fortschritt in der Klimapolitik sowie Naturkatastrophen. Ebenfalls ganz oben auf der Liste der Bedrohungen für die Welt stehen der Betrug mit sowie der Diebstahl von Daten und Kriminalität in Form von Cyberattacken. Trotz der Dimension dieser Probleme zeigt man sich beim WEF eher skeptisch, dass sie angesichts politischer und wirtschaftlicher Konflikte gemeinsam angegangen werden. Der Pessimismus gründet sich darauf, dass die Idee, die „Kontrolle zurückzuerlangen“– im Inland vom politischen Rivalen als auch extern von multilateralen Organisationen –, in vielen Ländern Nachhall finde.
In ihrem Bericht warnen die Autoren auch vor den Folgen der aktuellen Handelskonflikte, etwa zwischen den USA und China oder zwischen den USA und der EU. „Wirtschaftspolitik (…) wird heutzutage zunehmend als Mittel des strategischen Wettbewerbs gesehen“, heißt es. Dabei betont der Bericht, dass diese Krisen lange nicht vorbei sind. So rechnen 91 Prozent der Befragten mit wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den wichtigsten Staaten, 85 Prozent erwarten ein erhöhtes Risiko politischer Konfrontation. „In vielen Ländern ist die Polarisierung auf dem Vormarsch. In manchen Fällen fasern die sozialen Verträge aus, die die Gesellschaften zusammenhalten“, warnte WEF-Präsident Brende.
Eine gewichtige Rolle dabei spielt das langsamere Wirtschaftswachstum, zumal die Konjunktur mit schweren Problemen zu kämpfen habe. Hinzu komme, dass die Finanzmärkte unbeständiger geworden seien und weltweit die Schuldenlast stark gestiegen sei: Sie betrage nun 225 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts und damit mehr als vor der jüngsten Finanz- krise. Nicht zuletzt warnt das Weltwirtschaftsforum vor der „menschlichen Seite“globaler Risiken. „Für viele Menschen ist dies eine zunehmend ängstliche, unglückliche und einsame Welt“, heißt es in dem Bericht. Schätzungen zufolge würden etwa 700 Millionen Menschen weltweit an psychischen Problemen leiden. „Dies ist ein Zeitalter beispielloser Möglichkeiten und technologischen Fortschritts, aber für zu viele Menschen ist dies auch ein Zeitalter der Unsicherheit“, mahnte WEF-Präsident Brende.
Weitere Impulse bieten theoretische Szenarien im Bericht, etwa Wetterkriege, also Klimamanipulation zur Schwächung von Gegnern, oder die absichtliche Unterbrechung der Nahrungsversorgung.
Das Jahrestreffen steht heuer unter dem Titel „Globalisierung 4.0: Auf der Suche nach einer globalen Architektur im Zeitalter der vierten industriellen Revolution“.
„Der kollektive Wille ist nur sehr schwach.“ Borge Brende, WEF-Präsident