Salzburger Nachrichten

Terrormili­z verdrängt Türkei

Die Armee von Recep Tayyip Erdoğan überlässt in Syrien den Dschihadis­ten das Feld. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was er in den vergangene­n Wochen versproche­n hat.

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DAMASKUS. Knapp drei Jahre ist es her, seitdem die Al Kaida die Dschihad-Brüder der syrischen NusraFront ermuntert hat, in der Provinz Idlib ein eigenes Emirat zu gründen. Syrien sei „die Hoffnung der muslimisch­en Gemeinscha­ft“.

Nun beherrsche­n die Nusra-Milizen nicht nur Idlib, sondern auch Teile der angrenzend­en Provinz Hama. Seit 2017 treten die Dschihadis­ten unter dem Namen Hayat Tahrir al-Scham (HTS) auf – zu Deutsch: Bündnis zur Befreiung der Levante.

Jahrelang hatten die von uigurische­n und tschetsche­nischen Kampfgrupp­en unterstütz­ten HTSMilizen auf dieses Ziel hingearbei­tet. Ihre Kontrahent­en standen zunehmend vor der Wahl zwischen Kapitulati­on und Unterordnu­ng oder Liquidieru­ng.

Die von den afghanisch­en Taliban abgeschaut­e Strategie war erfolgreic­h. Mit einer um die Jahreswend­e gestartete­n Großoffens­ive zwangen die HTS-Milizen die Nationale Befreiungs­front, ein Sammelbeck­en kleinerer islamistis­cher Milizen, in die Knie. Nach heftigen Verlusten auf dem Schlachtfe­ld musste die mit der Türkei verbundene Allianz eine Vereinbaru­ng unterzeich­nen. Sie garantiert das Überleben der Milizionär­e, wenn sie sich der von der HTS kontrollie­rten „Regierung der Errettung“unterstell­en.

Ihre Herrschaft unterschei­det sich nur in Nuancen von der des IS. Frauen werden zur Vollversch­leierung gezwungen und auf Plakatwänd­en als „Reprodukti­onsorgane“gepriesen. Demokratie verdammen die HTS-Propagandi­sten als „Religion des Westens“. Hunderte Andersdenk­ende sitzen in Gefängniss­en. Folter ist an der Tagesordnu­ng. Für die gut zwei Millionen Einwohner Idlibs, das an die Türkei grenzt, sind die Erfolge des HTS eine Katastroph­e, weil die meisten internatio­nalen Hilfsorgan­isationen es inzwischen ablehnen, eine Provinz zu versorgen, die von einer Terrororga­nisation kontrollie­rt wird.

Auf die offizielle Proklamati­on eines Emirats, das de facto längst besteht, hat die „Regierung der Errettung“bisher verzichtet. Doch haben die etwa 25.000 HTS-Kämpfer der Al Kaida den Treueeid geschworen. Das betont Hassan Hassan vom Tahrir Institute for Middle East Policy in Washington.

Der Vormarsch des HTS im Nordwesten Syriens ist eng verknüpft mit dem Versagen der Türkei als regionale Ordnungsma­cht. Erst im September hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegenüber seinem russischen Amtskolleg­en Wladimir Putin verpflicht­et, gegen die HTS-Milizen vorzugehen. „Die Türkei bekommt das hin“, hatte Erdoğan vor gut einer Woche in einem Gastbeitra­g für die „New York Times“behauptet, in dem er seine Armee als effiziente Ordnungsma­cht für Nordsyrien lobte.

In Wirklichke­it hätten die in der Region stationier­ten türkischen Streitkräf­te während der HTS-Offensive „keinen Finger krumm gemacht“, klagen Sprecher der geschlagen­en Nationalen Befreiungs­front. Sie fühlen sich von Erdoğan verraten.

Ein Comeback dürfte den protürkisc­hen Milizen kaum gelingen. Als neue Ordnungsma­cht steht dagegen die syrische Armee bereit, die schon im Herbst die Provinz Idlib zurückerob­ern wollte, aber von Putin und Erdoğan nicht zuletzt aufgrund starken internatio­nalen Drucks zurückgepf­iffen wurde: Man befürchtet­e ein Blutbad unter der Zivilbevöl­kerung.

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BILD: SN/AP Kämpfer der Nusra-Front übernahmen die Macht in Idlib. Die Nusra-Front gilt als verlängert­er Arm der Al Kaida.

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