Salzburger Nachrichten

Die kuriosen Riten der Briten

Nach welchen Regeln funktionie­rt das Parlament in Westminste­r?

- SN, dpa

„Order, Order“– mit diesem Ruf schreitet Parlaments­sprecher John Bercow ein, wenn es im britischen Unterhaus wieder einmal hoch hergeht. Das kommt häufig vor. Vor allem während wichtiger Debatten und der wöchentlic­hen „Prime Minister’s Question Time“, wenn sich die Regierungs­chefin den Fragen des Opposition­schefs und der Abgeordnet­en stellen muss. Dann werden Wortbeiträ­ge gern von der jeweils anderen Seite mit Raunen, Buh- und Zwischenru­fen bedacht. Für die eigene Seite lässt man dagegen auch einmal ein lautstarke­s „Yeah, Yeah, Yeah“hören. Trotzdem bleibt man immer förmlich. Andere Mitglieder werden immer nur in der dritten Person angesproch­en.

Unterteilt werden die Mitglieder des Unterhause­s in Frontbench­er und Backbenche­r (Vorderbänk­ler und Hinterbänk­ler). In der ersten Reihe sitzen die Regierungs­mitglieder, ihnen gegenüber sitzt das Schattenka­binett. Das ist ein Kreis designiert­er Regierungs­mitglieder um den Opposition­sführer. Sie sind dafür zuständig, den Ministern in ihren jeweiligen Politikfel­dern die Hölle heiß zu machen. Nicht jeder Abgeordnet­e hat einen Platz im Parlament, bei wichtigen Abstimmung­en sitzen daher viele auch auf den Treppen oder drängen sich im Eingangsbe­reich.

Abgestimmt wird, indem die Abgeordnet­en die Kammer entweder durch die „Aye-Lobby“oder durch die „No-Lobby“, zwei Flure in entgegenge­setzter Richtung, verlassen. Die Abgeordnet­en werden dabei gezählt. Zwei Parlamenta­rier von jeder Seite – die „Teller“– sind dafür zuständig, die Auszählung zu überwachen, sie treten anschließe­nd vor den Sprecher und verkünden das Ergebnis. Der stellt dann fest, welche Seite gewonnen hat.

Jeder Sitzungsta­g wird durch eine feierliche Prozession eröffnet, bei der ein königliche­r Zeremonien­stab (The Mace) an seinen Platz in der Mitte der Kammer getragen wird. Ist der Stab nicht an seinem Platz, kann nicht getagt werden. Es gilt als außergewöh­nliche Form des Protests, wenn Abgeordnet­e sich den Stab schnappen und damit die Sitzung unterbrech­en. So geschehen erst kürzlich im Dezember, als der Labour-Abgeordnet­e Lloyd RussellMoy­le seinen Unmut über die Verschiebu­ng der Abstimmung zum Brexit-Deal ohne vorherige Befragung des Parlaments zum Ausdruck bringen wollte.

Das britische Wahlsystem kennt nur das Direktmand­at. Daher kann weitaus weniger Druck auf einzelne Abgeordnet­e ausgeübt werden. Dafür wird in Großbritan­nien manchmal mit schmutzige­n Tricks gekämpft. Die Whips (Einpeitsch­er), die dafür zuständig sind, Abgeordnet­e auf Linie zu bringen, erstellen dafür angeblich Listen mit wunden Punkten und pikanten Vergehen von Abgeordnet­en.

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BILD: SN/AP Auf ihn hören die Abgeordnet­en: Speaker John Bercow.

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