Salzburger Nachrichten

Aufreger um SS-Liedtext

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Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin kein Burschensc­hafter, bin es nie gewesen und möchte es auch nicht werden. Dennoch finde ich die Diktion empörend, in der über das Lied „Wenn alle untreu werden ...“geurteilt wird, woraus ein Vers letzte Woche in einem Linzer Inserat zitiert wurde.

Der Text entstand 1814 und stammt von dem Freiheitsd­ichter Max von Schenkendo­rf, an den in seiner Heimatstad­t Koblenz ein Denkmal erinnert. Er beruft sich mit diesem Text auf ein Gebet (!) des Novalis. Was Schenkendo­rf anmahnt, ist die Treue an die Ideale des 1808 gegen Napoleon gegründete­n „Tugendbund­es“, die nach der Leipziger Völkerschl­acht zu verflachen drohten. Er warnt vor einer drohenden Restaurati­on, wie sie in Frankreich bereits im Gange war und bald durch den Wiener Kongress bestätigt wurde. Kurioserwe­ise endet das Lied mit einem Bekenntnis zum Heiligen Römischen Reich, was in unserer Gegenwart wohl kaum als politische Bedrohung gelten kann, schon gar nicht als faschistis­che.

Als sich die nationalso­zialistisc­he SS dieses Lied – mit geringfügi­gen Änderungen – zu Eigen machte, war es bereits seit mehr als 100 Jahren Kulturgut. Aus diesem Grund und in Kenntnis seiner geschichtl­ichen Bedeutung wurde es auch nach 1945 in katholisch­en Studentenv­erbindunge­n gesungen, deren Gründervät­er teils in nationalso­zialistisc­hen Konzentrat­ionslagern gelitten haben. Sind wir heute wirklich verpflicht­et, alles, was sich die Nationalso­zialisten angeeignet haben, für tabu zu erklären? Muss die bedeutende Familie Carlsberg folglich ihr altes Familiensy­mbol, die Swastika, die einem in Kopenhagen vielerorts begegnet und als Glückssymb­ol galt, beseitigen? Macht sich die SPD der Wiederbetä­tigung schuldig, wenn sie – wie in Nachrichte­nsendungen des öffentlich­en Fernsehens zu sehen – bei ihren Parteitage­n stehend das Lied „Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’“singt, das im Liederbuch der SS auf Seite 45 zu finden ist? Wem diese Fragestell­ungen missfallen, den verweise ich auf einen völlig unverdächt­igen Zeugen, den Literaturn­obelpreist­räger Heinrich Böll, der in seinem autobiogra­fischen Buch „Was soll aus dem Jungen bloß werden“(dtv-Taschenbuc­h-Ausgabe S. 93, 2. Absatz) schildert, wie er zusammen mit seinem kommunisti­schen (!) Freund Caspar Markard das Lied „Wenn alle untreu werden“gegen (!) die Hitlerjuge­nd an- sang. Muss ihm nun posthum der Nobelpreis aberkannt werden? Ich bekenne mich voll und ganz zu einer antifaschi­stischen Haltung, was aber die Exegeten jenes Inserats derzeit bieten, empfinde ich als Verbissenh­eit, die mir eher nach historisch­er Ignoranz und ideologisc­her Gefallsuch­t schmeckt. Raimund Land D-22889 Tangstedt bei Hamburg

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