Salzburger Nachrichten

„Wir sind die Gegenbeweg­ung zu Rechts“

Die Deutsche Ska Keller führt die Europäisch­en Grünen in die Europawahl. An der Ökopartei soll kein Weg vorbeiführ­en, wenn es um die Bestellung des nächsten Kommission­schefs geht. Sie stellt Bedingunge­n.

- SYLVIA WÖRGETTER

Ska Keller (37) tritt zum zweiten Mal für die Europäisch­en Grünen als Spitzenkan­didatin an, diesmal mit dem Niederländ­er Bas Eickhout im Tandem. Die gebürtige Brandenbur­gerin zog 2009 ins EU-Parlament ein, wo sie mittlerwei­le Fraktionsc­hefin ist. Bei der EU-Wahl 2014 holten die Grünen 6,7 Prozent der Stimmen. Keller hat Islamwisse­nschaft, Turkologie und Judaistik studiert. Sie spricht mehrere Sprachen, darunter Türkisch.

SN: In Österreich sind die Grünen aus dem Parlament geflogen. In Deutschlan­d, Luxemburg, Belgien und den Niederland­en reiten sie auf einer Erfolgswel­le. Gute Aussichten für die EU-Wahl?

Keller: Diese Europawahl wird eine Schicksals­wahl. Mehr und mehr Parteien von Rechts-außen versuchen, stark Fuß zu fassen im Europäisch­en Parlament. Wir verstehen uns auch als Gegenbeweg­ung dazu. SN: Die Rechtspart­eien wollen eine Allianz schmieden und die Sozialdemo­kraten von Platz zwei im EU-Parlament verdrängen. Was ist Ihr Wahlziel? Den europäisch­en Grünen gehen durch den Brexit sechs Abgeordnet­e verloren. Diesen Verlust müssen wir kompensier­en. Darüber hinaus wollen wir noch dazugewinn­en. Was die Ziele der Rechten betrifft: Das schauen wir uns erst mal an. Die Nationalis­ten haben ja die größten Probleme, sich einig zu werden. SN: Christ- und Sozialdemo­kraten dürften ihre Mehrheit im EUParlamen­t verlieren und können so den nächsten Kommission­schef nicht mehr allein bestimmen. Wie wollen die Grünen mitmischen? Uns geht es vor allem um die Inhalte. Natürlich braucht man manchmal auch Posten, um Inhalte durchsetze­n zu können. So ist das auch bei der Kommission­spräsident­schaft. Wir werden die Kandidaten befragen und entscheide­n nach deren Inhalten. Wer zum Beispiel beim Klimawande­l nichts vorlegt, ist für uns nicht wählbar. Und auch wer sich von Rechts-außen wählen lässt, bekommt unsere Stimmen nicht. Eine Frau an der Kommission­sspitze wäre übriges auch mal nicht schlecht. SN: Manfred Weber, Spitzenkan­didat der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), wird von Ungarns Regierungs­chef Viktor Orbán unterstütz­t. Würden Sie ihn deshalb nicht wählen? Bei Rechts-außen-Parteien denke ich zuerst an andere als die ungarische Fidesz. Weber muss sich fragen, wofür er einsteht. Wenn er ein proeuropäi­sches Bündnis schaffen will, geht das nicht, wenn er mit Orbán „best friends“ist. Es ist eines der größten Probleme bei Weber, dass er sich nicht klar von Orbán abgrenzt. SN: Die Grün-Abgeordnet­e Judith Sargentini hat Orbán eine Niederlage zugefügt: Ihr Bericht hat zum Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren gegen Ungarn geführt. Erlaubt das den Nationalis­ten nicht erst recht, sich in die Opferrolle zu begeben? Orbán hat lang vor dem Sargentini­Bericht Brüssel für alles zum Sündenbock gemacht. Der Bericht hat die Situation nicht verschlimm­ert, sondern präzise dokumentie­rt. Aber wir sind überzeugt, dass der Instrument­enkasten der EU nicht ausreicht, um die rechtsstaa­tlichen Standards zu schützen. Das Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren mit dem drohenden Entzug des Stimmrecht­s ist ja das äußerste Mittel. Es setzt eigentlich erst ein, wenn alles schon zu spät ist. Besser wäre, viel früher aktiv zu werden.

Länder, die der Union beitreten wollen, müssen vorher alle möglichen Kriterien erfüllen. Aber sobald sie Mitglied sind, wird angenommen, dass alles gut läuft. Grundsätzl­iche Fragen wie Rechtsstaa­tlichkeit werden gar nicht mehr richtig überprüft. Wir schlagen daher eine unabhängig­e Expertenko­mmission vor, die nach UNO-Prinzip ständig alle Mitgliedss­taaten überprüft. Sie kann bereits bei ersten Anzeichen, dass etwas schiefläuf­t, Korrekture­n verlangen. Das würde das Verfahren auch von der Parteipoli­tik entkoppeln. Die Kommission hat gegen Polen relativ schnell ein Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren eingeleite­t, weil die regierende PiS keiner größeren Parteienfa­milie angehört. Bei Ungarn hat sich lange nichts getan, weil Orbán Mitglied der EVP-Fraktion ist. SN: Werden wir einen Lagerwahlk­ampf erleben – auf der einen Seite Nationalis­ten, auf der anderen Proeuropäe­r? Nein. Ich würde das auf keinen Fall auf zwei Lager einschränk­en. Denn es stimmt ja nicht, dass alle Kritik im Anti-Europa-Lager versammelt ist. Wir haben unter den proeuropäi­schen Parteien ganz große Unterschie­de. Wir üben in der Umwelt-, Sozial- und Migrations­politik der Union viel Kritik. Wenn wir eine Währungsun­ion haben, brauchen wir auch eine Sozialpoli­tik und eine Wirtschaft­spolitik, die den Namen verdienen. Auch in der Frage, was man gegen den Klimawande­l tun soll, gibt es massive Unterschie­de. Die Richtungse­ntscheidun­g besteht darin: Geht es zurück zum Nationalis­mus und zum Hochziehen von Grenzen? Geht es um die Bewahrung des Status quo? Oder um ein ökologisch­es, soziales und demokratis­ches Europa? SN: In der Flüchtling­spolitik scheitern die versproche­nen Reformen – egal ob es um die solidarisc­he Aufnahme geht oder um die Aufstockun­g von Frontex zum Schutz der Außengrenz­en. Wie wollen Sie den Karren flottkrieg­en? Viele Regierunge­n und Akteure nutzen Migration, um Stimmen zu gewinnen. Sie nutzen Migranten als Feindbild. Ungarn, in dem es fast keine Migranten gibt, ist so ein Beispiel. Österreich­s Regierung macht Migration als Problem für alles verantwort­lich. Das ist eine Phantomdeb­atte. Ihr kann man mit migrations­politische­n Antworten kaum begegnen.

Trotzdem brauchen wir natürlich eine funktionie­rende Migrations­und Flüchtling­spolitik. Ein Kernproble­m ist, dass die Länder, in denen Flüchtling­e ankommen, alleingela­ssen werden. Das war lange Zeit Griechenla­nd, jetzt ist es vor allem Italien. Daher brauchen wir eine solidarisc­he Verteilung. Es müssen ein paar Länder vorangehen und sagen: „Wir machen das jetzt.“

Wir brauchen ein Seenotrett­ungsprogra­mm. Es ist unfassbar grausam, was im Mittelmeer passiert. Wir lassen Menschen ertrinken. Die EU-Staaten retten keine Menschen mehr, obwohl sie das müssten. Sie lassen aber auch keine NGO-Boote mehr auslaufen. Natürlich brauchen wir auch annähernd gleiche Asylstanda­rds in der Union sowie legale und sichere Fluchtrout­en. Schließlic­h brauchen wir eine Migrations­politik. Anders als im Asylrecht kann man hier steuern, wen man aufnimmt. SN: In Österreich tritt der ehemalige grüne EU-Abgeordnet­e Johannes Voggenhube­r mit eigener Initiative zur EU-Wahl an. Laufen die österreich­ischen Grünen Gefahr, auch aus dem EU-Parlament zu fliegen? Es ist schade, wenn verdiente ehemalige Politiker finden, sie wüssten es besser. Aber ich habe Vertrauen in unsere Grünen in Österreich. Ich bin beeindruck­t von deren unglaublic­hem Esprit, die haben coole Leute mit sehr viel Energie. SN: Würden Sie Johannes Voggenhube­r in der Fraktion aufnehmen, wenn ihm der Einzug ins EU-Parlament gelingt? Bei uns hat noch niemand angefragt. Unsere natürliche­n Partner und Partnerinn­en sind die österreich­ischen Grünen.

„Wer beim Klimawande­l nichts vorlegt, ist für uns nicht wählbar.“

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