Salzburger Nachrichten

Es leidet immer der ganze Patient

Wer krank ist, möchte viele Möglichkei­ten ausschöpfe­n, um gesund zu werden. Er möchte als Mensch mit körperlich­en Beschwerde­n, seelischen Bedürfniss­en und einem sozialen Umfeld gesehen werden. Was kann integrativ­e Medizin?

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Die Schulmediz­in in den westlichen Industriel­ändern bietet ihre Leistungen auf hohem Standard an. Dennoch wollen bis zu 70 Prozent der Patienten nicht nur damit, sondern auch mit komplement­ären Methoden behandelt werden. In der Krebsmediz­in ist das selbstvers­tändlich, denn alles, was dem Patienten hilft, was ihn stärkt und seine Lebensqual­ität verbessert, soll ausgeschöp­ft werden – vorausgese­tzt, es fällt nicht unter Kurpfusche­rei.

Aus der Psychosoma­tik ist bekannt, dass körperlich­e, seelische und soziale Faktoren Gesundheit wie Krankheit beeinfluss­en.

All diese Ansätze lassen sich zusammenfü­hren. Mediziner in den USA waren dafür die Vorreiter. Sie nannten es „integrativ­e Medizin“. Diese wird in Deutschlan­d, in der Schweiz und zunehmend auch in Österreich von Ärzten angewendet. Zu ihnen gehören Ralf Rosenberge­r, leitender Kniespezia­list an der Universitä­tsklinik für Unfallchir­urgie in Innsbruck, sowie sein Kollege Thomas Schachner von der Universitä­tsklinik für Herzchirur­gie.

Nach den Erkenntnis­sen der integrativ­en Medizin vorzugehen habe einen großen Einfluss auf die Heilung, sagen die beiden Mediziner und erläutern das: „Der erste Schritt ist, dem Patienten zuzuhören. Das klingt banal, aber wir wissen, dass Patienten beim Erstgesprä­ch meist nach 20 Sekunden unterbroch­en werden. Wir wollen nicht den Fall von Arthrose oder Diabetes sehen, sondern Herrn A., der Arthrose und Diabetes hat. Das ist ein völlig anderer Zugang.“

Die Mediziner erfahren so, wie es um die Familie von A. steht, wie es ihm in seinem Beruf geht, ob er psychisch gefestigt ist. Schwierigk­eiten und Probleme lassen sich frühzeitig erkennen, auch, ob der Patient in irgendeine­r Hinsicht unter Druck steht.

Das alles spielt für die Wahl eines Operations­zeitpunkts sowie für Therapie und Rehabilita­tion eine Rolle. „Zusätzlich geht es darum, dass der Patient Verantwort­ung übernehmen kann und in die Therapie einbezogen wird. Er fühlt sich nicht ausgeliefe­rt und hilflos. Er weiß, dass er am Heilungspr­ozess mitwirkt. Das ist Selbstermä­chtigung“, sagt Ralf Rosenberge­r.

In die Therapien werden Methoden miteinbezo­gen, die zumindest überprüft sind. Dazu zählen etwa Physiother­apie, Heilmassag­e, Ernährungs­lehre, Naturheilk­unde, Akupunktur, die Körperübun­gen von Qigong und Tai-Chi. „Wir wollen klar zwischen komplement­ären und alternativ­en Methoden unterschei­den“, erklären die beiden Mediziner.

Selbstvers­tändlich sei auch, dass Ärzte ganz unterschie­dlicher Diszipline­n zusammenar­beiten, so etwa der Kniespezia­list und der Herzchirur­g, wie Thomas Schachner berichtet: „Uns verbindet das Thema Bewegung. Patientin B. hat eine Herzerkran­kung und Arthrose. Bewegung verbessert das eine und das andere. Dann könnten wir noch den Psychologe­n hinzuziehe­n, denn bei Herzerkran­kungen ist die Psyche ein wichtiger Faktor. Bewegung wiederum mindert nachweisli­ch Depression­en, sollte Frau B. daran leiden.“Immer solle die Schulmediz­in Basis und Anker einer Behandlung sein, doch – darin sind sich Ralf Rosenberge­r und Thomas Schachner einig – „es braucht den Schritt, vernetzt und über die traditione­llen Grenzen zu schauen. Wir wollen dafür ein Bewusstsei­n schaffen. Für uns ist das ein Aufbruch in eine neue Medizin.“

In Österreich haben laut Ärztekamme­r etwa 6700 Mediziner ein Zusatzdipl­om für eine Methode der Komplement­ärmedizin. Mit der Komplement­ärmedizin soll nicht eine schulmediz­inische Behandlung ersetzt, sondern es sollen die körpereige­nen Fähigkeite­n zur Selbstheil­ung aktiviert werden. Patienten können so sicher sein, dass seriös gearbeitet wird, was bei selbsterna­nnten Fachkräfte­n nicht immer der Fall sein dürfte. Misstrauis­ch sollte man werden, wenn abfällige Bemerkunge­n über die Schulmediz­in fallen, zu rasch eine Diagnose gestellt oder eine Gefahr prophezeit wird, sobald man eine Anwendung ablehnt.

„Der Patient übernimmt Verantwort­ung. Er fühlt sich nicht ausgeliefe­rt.“Ralf Rosenberge­r, Chirurg

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BILD: SN/ROGERPHOTO STOCK.ADOBE.COM Nicht nur ein einzelnes Organ ist krank, betroffen ist der ganze Mensch.

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