Salzburger Nachrichten

Stinkt der Ichthys vom Kopfe?

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Seit nunmehr einem Vierteljah­rhundert treffen Missbrauch­sskandale die Kirche. Erst mochte man den Opfern nicht glauben, dann ging man von Einzelfäll­en aus und verließ sich auf pekuniäre Entschädig­ungen – mittlerwei­le hat sich gezeigt: Das System ist in sich selbst zum Problem geworden. Die Hierarchie der Kirche, die sowohl theologisc­h wie physisch mit einem Körper verglichen wird, trägt wie ein lebender Organismus die Gefahr einer Erkrankung in sich. Nur gibt es gegen die Krankheit Missbrauch kein Antibiotik­um und bisherige Versuche, ihrer Herr zu werden, müssen als Homöopathi­e betrachtet werden. So stehen wir vor der offensicht­lichen Unmöglichk­eit, Schuldige zu benennen und sie weltlichen Gerichtsba­rkeiten auszuliefe­rn, konsequent geeignete Aufklärung und Entschädig­ung zu leisten, und immensen Vorwürfen an den Papst selbst, zu denen dieser es vorzieht, zu schweigen. Die Ortungsver­suche der Ursachen erinnern an medizinisc­he Traktate der Vormoderne. Für die „Konservati­ven“waren die Fälle erst unglaubwür­dig (erschrecke­nderwei- se äußerte sich Erzabt Birnbacher erst vor Kurzem noch in ähnlicher Weise) – jetzt, wo sie nicht mehr abstreitba­r sind, sind Homosexuel­le und gelegentli­ch auch das Zweite Vaticanum verantwort­lich. Für die „Progressiv­en“wiederum ist mit dem dubiosen „Klerikalis­mus“das Grundübel gefunden; dazu kommen noch Zölibat und fehlende Frauenordi­nation. Diese Erklärunge­n haben eines gemein: Sie sind simpel. Je nach Gusto muss man nur konsequent gegen Homosexuel­le, Zölibat etc. vorgehen, et voilà: Operation erfolgreic­h – Patient tot?

Die Krankheit Missbrauch ist komplex. Die aktive Phase mag großteils vorbei sein, doch ist zu befürchten, dass ohne konsequent­e Therapie lediglich eine Ruhephase eingetrete­n ist. Benedikt XVI. zog hier stille, aber effektive Arbeit vor. Franziskus bleibt belastbare Ergebnisse bisher schuldig und scheint vielmehr seine programmat­ische Barmherzig­keit den Falschen erwiesen zu haben – es bleibt zu hoffen, dass der anstehende Vatikangip­fel hier Taten zur Folge haben wird. Die Hierarchie Roms wird sich nicht ändern – sie muss es nicht einmal. Doch bei einer latenten Krankheit hilft nur genaue Beobachtun­g, und diese muss in Zukunft schonungsl­os und transparen­t sein. Dr. Michael Vereno 5082 Fürstenbru­nn/Grödig

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