Viele in Frankreich sind entsetzt über antisemitische Welle
Experten werten die Zunahme von Übergriffen als ein Indiz für die Verschlechterung des sozialen Klimas im Lande.
PARIS. „Ich glaube, Mama wäre nicht überrascht.“Mit diesen Worten reagierte Jean Veil auf die Hakenkreuze, mit denen Unbekannte die Bildnisse seiner Mutter beschmiert hatten, die der Straßenkünstler Christian Guany an zwei Briefkästen am Rathaus des 13. Pariser Bezirks angebracht hatte. Seine Mutter, das ist Simone Veil, die Auschwitz-Überlebende, frühere französische Gesundheitsministerin und erste Präsidentin des EUParlaments, die 2017 von der Republik für ihre Verdienste mit der Überführung ihrer sterblichen Überreste ins Pantheon geehrt worden ist.
Über den Antisemitismus in Frankreich habe sie sich kaum Illusionen hingegeben, sagte der 71jährige Anwalt. Anzeige wolle er nicht erstatten. Das würde nur der Publizität der Täter dienen. Doch die ist diesen sowieso sicher.
Etwa zur gleichen Zeit des Akts gegen Simone Veil waren an anderen Stellen in Paris antisemitische Schmieraktionen entdeckt worden. Ans Schaufenster eines Restaurants hatte jemand (in deutscher Sprache) das Wort „Jude“gepinselt, an eine Garagentür im 1. Arrondissement die Beschimpfung „Macron, Judenhure“, eine Anspielung auf die frühere Tätigkeit von Präsident Emmanuel Macron bei der Rothschild-Bank. Zwei ähnliche Beschimpfungen prangten an der Fassade der Zeitung „Le Monde“. Zwei Unbekannte fällten gar auf einem Friedhof im Süden der Hauptstadt zwei Bäume, die zum Gedenken an einen 2006 zu Tode gefolterten jungen Juden gepflanzt worden waren.
Alarmierend ist: „Der Antisemitismus breitet sich aus wie ein Gift.“
Das sagte Innenminister Christophe Castaner, als er die jüngste Serie antijüdischer Akte von Beleidigungen über Bedrohungen und Sachbeschädigungen bis hin zu Körperverletzungen bekannt gab. Ihre Zahl ist demnach 2018 um 74% gestiegen, und zwar von 311 auf 541.
Gewalttaten wie der Überfall auf eine Schule 2012 oder die Ermordung einer Pensionistin 2017 waren diesmal nicht auf der Liste enthalten. Doch zugenommen hat insbesondere die Ausbreitung von Slogans über das Netz, die – wie „Le Monde“es ausdrückt – „aus den Abfalleimern der Geschichte“gefischt worden sind.
Ein Gesicht haben die Täter nicht. Ihr Profil ist den Behörden zumeist unbekannt, ebenso ihre Motivation wie auch ihre Ideologie. Der islamistische Antisemitismus gilt als einer der auslösenden Faktoren antijüdischer Akte. Doch er erklärt nach Meinung von Experten längst nicht das Ausmaß der Ausschreitungen. Neu hinzugekommen sind antisemitische Reaktionen, die sich im Zuge der Protestbewegung der „Gelbwesten“Luft verschaffen. Der betrübliche Befund des Innenministeriums in Paris ist, dass sich Extremisten von links und insbesondere von rechts mit ihren Slogans unter die „Gelbwesten“mischen, um in deren Outfit gegen die demokratischen Institutionen, die Herrschaft der Eliten und Macrons Reformen als „jüdische Verschwörung“zu protestieren. Ein 30-minütiges Video, das einen angeblichen Pakt des Präsidenten mit Rothschild belegt, wurde laut der Zeitung „Le Figaro“im Netz 1,5 Millionen Mal aufgerufen.
Angriffe auf Juden seien schon immer sichere Anzeichen einer Verschlechterung der Lage einer Gesellschaft gewesen, schreibt die katholische Zeitung „La Croix“.