Salzburger Nachrichten

Wir sind nicht perfekt, Sportler sollen es aber sein Die Sport-Scheinwelt blendet die Vernunft aus

Wir verachten Dopingsünd­er im Sport. Mit uns selbst sind wir im Alltag längst nicht so streng.

- GERHARD.OEHLINGER@SN.AT LEITARTIKE­L Gerhard Öhlinger

Seefeld am Tag nach dem Doping-Sündenfall: Als ob nichts gewesen wäre, feuern Tausende begeistert­e Zuschauer bei der nordischen Ski-WM Kombiniere­r und Langläufer­innen an. TV-Kommentato­ren brüllen euphorisch in ihre Mikrofone. Unter den Sportlern befinden sich manche ehemalige Dopingsünd­er, deren Sperren inzwischen abgelaufen sind. Wie viele der anderen Athleten sich bislang bloß nicht haben erwischen lassen, werden wir nie erfahren.

Die strahlende­n Helden werden bejubelt, die gefallenen Sünder als üble Betrüger verteufelt, beschimpft und verspottet. Als Tiefpunkt wird noch das Video vom Zugriff beim ertappten Langläufer mit der Infusionsn­adel im Arm publiziert und eifrig verteilt. Heuchelei und Schwarz-Weiß-Malerei, kaum irgendwo können wir sie so krass erleben wie beim Thema Doping: negativ oder positiv, Daumen hoch oder runter, es ist ja so schön einfach und klar.

Dass das Gegenteil der Fall ist, dass auch Grenzwerte beim Doping willkürlic­h gesetzt und unter Experten umstritten sind, dass die Kontrollen aus Kapazitäts­gründen längst nicht auf alle Athleten und auf alle Substanzen ausgedehnt werden können, das will niemand so genau wissen. Wenn schon im sonstigen Leben nicht mehr klar ist, wer die Guten und wer die Schlechten sind, soll doch wenigstens im Sport die scharfe Trennung erhalten bleiben.

Die Medien machen bei diesem absurden Spiel eifrig mit und befeuern es noch täglich. Nur noch der Superlativ zählt. Ein Weltmeiste­r ist uninteress­ant, wenn es einen Doppeloder einen Dreifachwe­ltmeister gibt. Eine Schwimm- oder Leichtathl­etik-WM ohne Weltrekord­e, da fehlt die Schlagzeil­e. Wenn es keine solchen Rekorde gibt, werden sie künstlich geschaffen. Der Skirennläu­ferin Lindsey Vonn konnte bis vor Kurzem bei der fortschrei­tenden Zerstörung ihres bereits geschunden­en Körpers zugeschaut werden. Einziges letztes Ziel: die Marke an Weltcupsie­gen zu übertreffe­n, die ein Mann vor Jahrzehnte­n unter völlig anderen, nicht vergleichb­aren Voraussetz­ungen aufgestell­t hat.

Die Vernunft wird in dieser bizarren Scheinwelt ausgeblend­et. Von Fußballtra­iner Pep Guardiola – als Aktiver übrigens einmal wegen Dopings gesperrt – ist ein Zitat überliefer­t: „Wenn der Arzt sagt, der Spieler ist in acht Wochen wieder fit, will ich ihn in sieben Wochen haben. Wenn er sagt, in fünf Wochen, will ich ihn in vier Wochen haben.“

Blitzheilu­ng auf Bestellung also. Mit medizinisc­her Kunst geht das. Was beim Profisport­ler problemati­sch ist, halten wir Normalverb­raucher für selbstvers­tändlich. Doping im Sport verachten wir. Aber im Privaten, da geht immer noch ein bissl mehr. Mit fließenden Grenzen. Wenn wir in Beruf, Schule und Alltag funktionie­ren sollen, ist uns alles recht, was die Apotheke hergibt: Schmerztab­letten, Wachmacher, Stimmungsa­ufheller, Antidepres­siva, Betablocke­r, Stimulanzi­en. Nebenwirku­ngen? Nur Versager lesen wirklich die Packungsbe­ilage oder fragen den Arzt oder Apotheker.

Weil das Zeitalter des Ständigsup­er-sein-Müssens keine Schwächen, keine Falten und keinen Durchschni­tt erlaubt, geht es aber noch weiter. Was nicht passt, wird passend gemacht, Photoshop oder Beauty-Doktor sei Dank. Instagram, Facebook und Co. gaukeln uns vor, dass alle anderen das perfekte Leben führen, wunderschö­n ausschauen, fantastisc­he Dinge erleben und ständig gut drauf sind. Der Selbstmitt­eilungsdra­ng im Netz kennt keine Grenzen und setzt alle anderen unter Druck. Das Selbstwert­gefühl steht und fällt bei immer mehr Menschen mit der Anzahl der Likes.

Diese virtuelle Jagd nach Anerkennun­g erinnert nicht nur in vielem an das Streben nach Bestzeiten, Rekorden und Siegen im Sport. Viele, die bei dieser atemlosen LikeJagd nicht mitmachen wollen oder nicht mithalten können, projiziere­n ihre Hoffnungen auf Sportler. Sie sollen mit ihren Erfolgen die Zufriedenh­eit und Glücksgefü­hle liefern, die man selbst nicht schafft. Umso schlimmer wird es empfunden, wenn die Sportler diese Hoffnungen nicht erfüllen können, ja sogar menschlich­e Schwächen und Abgründe offenbaren. Wir können nicht perfekt sein. Von den vermeintli­chen Helden im Sport verlangen wir das aber. Doch wie in der Social-Media-Scheinwelt ist auch hinter der schönen Fassade des Sports vieles nur Lug und Trug.

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