Wir sind nicht perfekt, Sportler sollen es aber sein Die Sport-Scheinwelt blendet die Vernunft aus
Wir verachten Dopingsünder im Sport. Mit uns selbst sind wir im Alltag längst nicht so streng.
Seefeld am Tag nach dem Doping-Sündenfall: Als ob nichts gewesen wäre, feuern Tausende begeisterte Zuschauer bei der nordischen Ski-WM Kombinierer und Langläuferinnen an. TV-Kommentatoren brüllen euphorisch in ihre Mikrofone. Unter den Sportlern befinden sich manche ehemalige Dopingsünder, deren Sperren inzwischen abgelaufen sind. Wie viele der anderen Athleten sich bislang bloß nicht haben erwischen lassen, werden wir nie erfahren.
Die strahlenden Helden werden bejubelt, die gefallenen Sünder als üble Betrüger verteufelt, beschimpft und verspottet. Als Tiefpunkt wird noch das Video vom Zugriff beim ertappten Langläufer mit der Infusionsnadel im Arm publiziert und eifrig verteilt. Heuchelei und Schwarz-Weiß-Malerei, kaum irgendwo können wir sie so krass erleben wie beim Thema Doping: negativ oder positiv, Daumen hoch oder runter, es ist ja so schön einfach und klar.
Dass das Gegenteil der Fall ist, dass auch Grenzwerte beim Doping willkürlich gesetzt und unter Experten umstritten sind, dass die Kontrollen aus Kapazitätsgründen längst nicht auf alle Athleten und auf alle Substanzen ausgedehnt werden können, das will niemand so genau wissen. Wenn schon im sonstigen Leben nicht mehr klar ist, wer die Guten und wer die Schlechten sind, soll doch wenigstens im Sport die scharfe Trennung erhalten bleiben.
Die Medien machen bei diesem absurden Spiel eifrig mit und befeuern es noch täglich. Nur noch der Superlativ zählt. Ein Weltmeister ist uninteressant, wenn es einen Doppeloder einen Dreifachweltmeister gibt. Eine Schwimm- oder Leichtathletik-WM ohne Weltrekorde, da fehlt die Schlagzeile. Wenn es keine solchen Rekorde gibt, werden sie künstlich geschaffen. Der Skirennläuferin Lindsey Vonn konnte bis vor Kurzem bei der fortschreitenden Zerstörung ihres bereits geschundenen Körpers zugeschaut werden. Einziges letztes Ziel: die Marke an Weltcupsiegen zu übertreffen, die ein Mann vor Jahrzehnten unter völlig anderen, nicht vergleichbaren Voraussetzungen aufgestellt hat.
Die Vernunft wird in dieser bizarren Scheinwelt ausgeblendet. Von Fußballtrainer Pep Guardiola – als Aktiver übrigens einmal wegen Dopings gesperrt – ist ein Zitat überliefert: „Wenn der Arzt sagt, der Spieler ist in acht Wochen wieder fit, will ich ihn in sieben Wochen haben. Wenn er sagt, in fünf Wochen, will ich ihn in vier Wochen haben.“
Blitzheilung auf Bestellung also. Mit medizinischer Kunst geht das. Was beim Profisportler problematisch ist, halten wir Normalverbraucher für selbstverständlich. Doping im Sport verachten wir. Aber im Privaten, da geht immer noch ein bissl mehr. Mit fließenden Grenzen. Wenn wir in Beruf, Schule und Alltag funktionieren sollen, ist uns alles recht, was die Apotheke hergibt: Schmerztabletten, Wachmacher, Stimmungsaufheller, Antidepressiva, Betablocker, Stimulanzien. Nebenwirkungen? Nur Versager lesen wirklich die Packungsbeilage oder fragen den Arzt oder Apotheker.
Weil das Zeitalter des Ständigsuper-sein-Müssens keine Schwächen, keine Falten und keinen Durchschnitt erlaubt, geht es aber noch weiter. Was nicht passt, wird passend gemacht, Photoshop oder Beauty-Doktor sei Dank. Instagram, Facebook und Co. gaukeln uns vor, dass alle anderen das perfekte Leben führen, wunderschön ausschauen, fantastische Dinge erleben und ständig gut drauf sind. Der Selbstmitteilungsdrang im Netz kennt keine Grenzen und setzt alle anderen unter Druck. Das Selbstwertgefühl steht und fällt bei immer mehr Menschen mit der Anzahl der Likes.
Diese virtuelle Jagd nach Anerkennung erinnert nicht nur in vielem an das Streben nach Bestzeiten, Rekorden und Siegen im Sport. Viele, die bei dieser atemlosen LikeJagd nicht mitmachen wollen oder nicht mithalten können, projizieren ihre Hoffnungen auf Sportler. Sie sollen mit ihren Erfolgen die Zufriedenheit und Glücksgefühle liefern, die man selbst nicht schafft. Umso schlimmer wird es empfunden, wenn die Sportler diese Hoffnungen nicht erfüllen können, ja sogar menschliche Schwächen und Abgründe offenbaren. Wir können nicht perfekt sein. Von den vermeintlichen Helden im Sport verlangen wir das aber. Doch wie in der Social-Media-Scheinwelt ist auch hinter der schönen Fassade des Sports vieles nur Lug und Trug.