„Für die NATO ist Krise der Normalzustand“
Die weltgrößte Militärallianz wird im April 70 Jahre alt. Der langjährige Sprecher Jamie Shea zeigt Verständnis für US-Kritik an den Europäern.
Jamie Shea (65) war das Gesicht der NATO während des Kosovo-Krieges, später stellvertretender Generalsekretär. Er kann wortreich und profunde über den Nordatlantikpakt 70 Jahre nach der Gründung reden, auch, weil er mehr als die Hälfte dieser Zeit dabei gewesen ist. SN: Ist die NATO in der Krise? Jamie Shea: In meinen fast 40 Jahren bei der NATO wurde immer über „NATO und Krisen“geschrieben. In den 1980er-Jahren gab es die Krise wegen der Stationierung von „Pershing“-Raketen in Europa, dann gab es Streit zwischen Ronald Reagan und Margaret Thatcher wegen einer Gas-Pipeline. Als die Berliner Mauer fiel, dachten viele, dass es ohne Sowjetunion keinen Grund für die Existenz der NATO gebe. In den 1990er-Jahren ging es um die Intervention in Ex-Jugoslawien. Dann gab es Streit über die Erweiterung der NATO – und darum, wie man mit Russland umgeht. Für jemanden wie mich ist Krise der Normalzustand. SN: Jetzt stellt aber erstmals ein US-Präsident die Allianz infrage … Klar, das ist nicht der Normalzustand. Ich habe Präsident Trump zwei Mal in Aktion bei Gipfeln gesehen. Mein Eindruck ist, dass er es liebt, der Bilderstürmer zu sein. Er mag keine heiligen Kühe, keine konventionellen Ansichten. Er stellt alles infrage, nicht nur die NATO. In einer solchen Zeit muss auch die NATO lernen, sich zu rechtfertigen. SN: Also nicht so schlimm, solange die USA dabeibleiben? Viele US-Präsidenten, von Eisenhower über Kennedy bis Nixon, haben das Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Engagement infrage gestellt. Das hätte man auch lösen sollen. Die USA haben 1949 den NATO-Vertrag nur für 20 Jahre unterschrieben, viele im Kongress wollten sogar nur zehn Jahre. Die Amerikaner haben das nie als permanente Garantie gesehen, sondern vorübergehend, um den Europäern Zeit zu geben, sich zusammenzutun und Streitkräfte aufzubauen. Die USA waren in den 1950er-Jahren große Unterstützer der europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Bis zu einem gewissen Grad spiegelt Trump also nur, dass die Amerikaner über 70 Jahre erwartet haben, dass die Europäer etwas tun – aber sie haben es nicht. Die USA stellen heute 70% des NATO-Verteidigungsbudgets. Nach dem Brexit wird der Anteil der 21 EU-Länder unter 20% sinken. SN: Ist die Art, wie Trump vorgeht, das Problem? Kann sein, dass Trump diese Dinge etwas unkonventioneller anspricht. Aber er hat die Rückendeckung der amerikanischen Sicherheits-Community, die an die NATO glaubt, aber das ins Lot bringen will. Ich bin sicher, wenn man morgen ins Weiße Haus ginge, würde Trump sagen: „Ich war ziemlich hart mit diesen Europäern, aber seht her, sie haben reagiert.“Seit 2016 haben die Europäer ihr Verteidigungsbudget um 45 Mrd. Dollar aufgestockt, bis Ende 2020 werden es 100 Mrd. Dollar mehr sein. 2024 werden alle die Zwei-Prozent-Marke erreichen. Tatsächlich wurden die NATO-Ausgaben in Europa für Ausrüstung, Truppen, Übungen von 700 Mill. Dollar in der Amtszeit von Präsident Barack Obama schon auf fünf Mrd. Dollar pro Jahr erhöht. SN: Wie wird sich der Brexit auf die Allianz auswirken? Das Vereinigte Königreich hat historisch die europäischen Mächte im Gleichgewicht gehalten. Das ist ein vitales Interesse der britischen Außenpolitik. Kurzfristig wird mit dem EU-Austritt die NATO für London wichtiger: Man will zeigen, dass man militärisch ein internationaler Player bleibt. Die Briten haben viele wichtige Positionen in der NATO und viel investiert, um eine starke Stimme zu haben, und tun das weiterhin. Zugleich hat Großbritannien Interesse an einem engen EUNATO-Verhältnis. Denn für das meiste, was die NATO machen will, braucht sie die EU, ob in der Ukraine, Georgien oder auf dem Balkan. Das gilt auch in Afrika und bei der Migration. SN: Aber waren nicht die Briten gegen engere Verteidigungskooperationen in der EU? Die Ironie ist, dass das Vereinigte Königreich jetzt mehr daran interessiert ist als während seiner EUMitgliedschaft. London sieht, dass die EU 13 Mrd. Euro in den neuen Verteidigungsfonds steckt; dass neue Technologien, künstliche Intelligenz und Drohnen vorangetrieben werden sollen; dass es deutschfranzösische Pläne für ein künftiges europäisches Flugzeug gibt. Die britischen Hersteller wollen von diesen Märkten nicht ausgeschlossen sein. Ich hoffe, dass hier der Pragmatismus auf beiden Seiten siegt. Die Briten zahlen 25% des EU-Verteidigungsbudgets, sie stellen 20% der Einsatzkräfte. Die EU braucht sogar für kleinere humanitäre Einsätze die britischen Transportmaschinen. SN: Länder wie Ungarn, Polen oder die Türkei verletzen demokratische Werte. Sollte man sie daher aus der NATO werfen? Ausschlussmöglichkeiten gibt es nicht, Staaten können freiwillig austreten. Es gab auch in dieser Hinsicht schon schwierige Phasen, als Portugal in der Zeit des autoritären Salazar-Regimes aufgenommen wurde oder beim Militär-Coup in Athen in den 1960er- oder in Ankara in den frühen 1970er-Jahren. Die Allianz war flexibel bei kurzfristigen Abweichungen von demokratischen Werten. Die NATO ist nicht die EU, nicht der Europarat und keine Menschenrechtsorganisation. Man muss sich fragen, ob es um die europäische Sicherheit besser bestellt wäre, wenn diese Länder draußen wären. Ich denke, man sollte sie besser in der Familie halten und reden. Es ist aber langfristig international wichtig, dass die NATO als Allianz demokratischer Staaten und Werte wahrgenommen wird. SN: Die Türkei hat in Syrien die Seite gewechselt und bestellt russische Raketensysteme. Ich sage nicht, dass die Alliierten nicht von Zeit zu Zeit Probleme haben. Aber die Türkei ist eine der größten militärischen Kräfte im Nahen Osten. Sie will übrigens für mehr Geld westliches Equipment kaufen. Einige NATO-Mitglieder fliegen bis heute MIG-29, die sie aus dem Warschauer Pakt geerbt haben. Was die Alliierten vereint, ist wichtiger als das, was sie trennt. SN: Heißt das Ende des INFVertrags wieder Wettrüsten? Wir haben massiv von den Abrüstungsverträgen profitiert. Der INFVertrag hat erstmals eine ganze Kategorie von Waffen eliminiert. Und er hat die Atmosphäre zwischen den USA und der Sowjetunion völlig verändert. Es war eine Art Reisepass heraus aus dem Kalten Krieg. Aber Verträge von damals passen heute nicht mehr. Es gibt 25 Länder mit ballistischen Raketen weltweit.
Für die NATO gibt es keine Zweifel, dass Russland den INF-Vertrag gebrochen hat. Meine Hoffnung ist, dass die USA und Russland in den sechs Monaten, die noch bleiben, einen Kompromiss finden. Es wäre besser, Länder wie China in das Abkommen aufzunehmen, als Tabula rasa zu machen. Die USA und Russland haben noch immer 90% aller Nuklearwaffen. Das, was sie tun, ist also ein gutes oder ein schlechtes Beispiel für den Rest der Welt.