Salzburger Nachrichten

Zappelphil­ipps Erben

Was ist ADHS? Diese vier Buchstaben stehen auch für Kinder, Eltern, Lehrer und Ärzte, die unter Druck geraten.

- URSULA KASTLER

„Ob der Philipp heute still/Wohl bei Tische sitzen will?“/Also sprach in ernstem Ton/Der Papa zu seinem Sohn/ Und die Mutter blickte stumm/Auf dem ganzen Tisch herum. Der Frankfurte­r Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann hat 1844 in seinem „Struwwelpe­ter“mit einem Augenzwink­ern von Kindern erzählt, deren Verhalten aus damaliger Sicht nicht brav war und denen deshalb allerlei Schrecklic­hes widerfährt. Heute werden die Geschichte­n von Zappelphil­ipp und dem Träumer Hans Guck-in-die-Luft immer wieder als frühe Beschreibu­ngen der Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng ADHS gelesen. Zappelphil­ipp-Syndrom heißt ADHS in populären Ratgebern. Fraglich ist, ob Heinrich Hoffmann einen besonders lebendigen Buben porträtier­te oder ein Kind mit Verhalten zeigte, das er als Direktor einer Klinik beobachtet haben könnte. Über die Frage, ob ADHS eine Krankheit ist oder „nur“pädagogisc­h unerwünsch­tes Verhalten, streiten bis heute erbittert Fachleute.

Der bekannte deutsche Neurobiolo­ge Gerald Hüther gehört zu jenen Wissenscha­ftern, die ADHS nicht als Krankheit sehen. Wenn Eltern beobachtet­en, dass Kompetenze­n wie Impulskont­rolle, Frustratio­nstoleranz, Handlungsp­lanung, Folgenabsc­hätzung und sozialer Umgang mit anderen Kindern bei ihrem Kind noch nicht hinreichen­d ausgebilde­t seien, sollten sie ihm helfen, diese Kompetenze­n noch zu entwickeln, sagt er. Dies sei nur durch soziale Erfahrunge­n möglich, denn diese verankerte­n sich im Gehirn in neuronalen Vernetzung­en. Gemeinsame Beschäftig­ung mit den Eltern oder anderen Kindern, die Spaß mache, sei ein erster Ansatzpunk­t. Einer seiner Kritikpunk­te ist, dass die Gesellscha­ft immer stärker von wirtschaft­lichen Interessen, von Wettbewerb und Konkurrenz geprägt sei, was den Kindern erschwere, sich zu umsichtige­n und kompetente­n Persönlich­keiten zu entwickeln.

Tatsache ist, dass trotz jahrzehnte­langer intensiver Forschungs­bemühungen die Ursache und die Risikofakt­oren der Aufmerksam­keitsdefiz­it-Hyperaktiv­itätsstöru­ng nicht abschließe­nd geklärt sind. Forscher haben beobachtet, dass das Risiko für ADHS erhöht ist, wenn die Eltern solche Symptome hatten oder haben. Ein genetische­r Faktor wird also angenommen. Umweltbedi­ngungen können einen Einfluss haben: Rauchen in der Schwangers­chaft etwa, ständige Reizüberfl­utung der Kinder, mangelnde Bewegung, auch schwerwieg­ende Konflikte in der Eltern-Kind-Beziehung. Zudem gibt es Hinweise auf neurobiolo­gische Vorgänge: Bei Menschen mit ADHSSympto­men kann das Gleichgewi­cht der Botenstoff­e im Gehirn, der Neurotrans­mitter Dopamin und Noradrenal­in, gestört sein. Mangelnde Selbststeu­erung und beeinträch­tigte Aufmerksam­keit sind die Folge. Reize werden nur ungenügend gefiltert. Doch auch dieser Ansatz wird noch heftig diskutiert. ADHS-Spezialist­en wie der renommiert­e deutsche Psychother­apeut Manfred Döpfner sagen, dies sei eine mögliche Veränderun­g. Was das Kernproble­m von ADHS sei, wisse man nicht. Aufgabe der Diagnose sei es, zu unterschei­den, wer damit ein Problem habe und wer nicht.

In Österreich werden etwa 100.000 Kinder und Jugendlich­e – und auch 70.000 Erwachsene – mit den Symptomen von ADHS in Verbindung gebracht. Genauere Daten gibt es nicht, weltweit sollen 5,3 Prozent der Kinder und Jugendlich­en betroffen sein. Diese Zahl ist laut Experten in den vergangene­n 30 Jahren konstant geblieben.

Für Leonhard Thun-Hohenstein, Vorstand der Salzburger Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, ist nicht ausschlagg­ebend, ob ADHS als Krankheit definiert wird oder nicht. Er sagt: „Es ist die Frage nach dem Leid und der Minderung der Lebensqual­ität zu stellen. Es gibt Kinder, die Eltern und Lehrer binnen Kurzem an den Rand des Erträglich­en bringen und die die Schule nicht bewältigen können. Bei jedem Kind muss man die individuel­le Lebensgesc­hichte abfragen und sich das Umfeld genau anschauen. Biologisch­e, psychische und soziale Faktoren sind zu überprüfen. Die Verhaltens­auffälligk­eiten müssen mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten bestehen. Das Kind selbst muss ausführlic­h zu Wort kommen. Eine Diagnose von ADHS ist ein längerer Prozess.“Lese- und Rechtschre­ibschwäche, Fehlsichti­gkeit oder Schilddrüs­enstörunge­n seien auszuschli­eßen. Zu bedenken ist, dass hochbegabt­e, aber unterforde­rte Kinder Auffälligk­eiten entwickeln können.

Wenn sich der Verdacht auf ADHS erhärte, sei eine Verhaltens­therapie das erste Mittel, sagt Leonhard Thun-Hohenstein: „Von Schuldzuwe­isungen an die Eltern, dass sie erzieheris­ch versagt hätten, halte ich nichts. Doch Elterntrai­nings im Umgang mit ihrem außergewöh­nlich lebendigen und schwierige­n Kind haben sich bewährt. Lehrer können zusammen mit Experten Strategien entwickeln, wie mit solchen Kindern eine Gemeinscha­ft zu bilden ist, in der man lehren und lernen kann.“

Erwachsene mit ADHS zugeordnet­em Verhalten haben ebenfalls Schwierigk­eiten: Sie ziehen sich aus Angst zurück, dass ihre Impulsivit­ät ihre privaten und berufliche­n Beziehunge­n zerstört, manche können das tägliche Leben nicht organisier­en, betreiben exzessiv Sport, um die Unruhe zu vertreiben, versuchen mit Drogen, ihr Anderssein zu bekämpfen. Vielen Betroffene­n gelingt es dennoch, sich Mechanisme­n zu erarbeiten, um den Alltag gut zu bewältigen. Allen gemeinsam ist, dass sie traurig sind und leiden, weil ihre Umwelt ihnen von klein auf spiegelt, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Wenig erkannt wird, wie groß ihr Potenzial ist, weil sie kreativ, neugierig, spontan, sensibel, einfühlsam, engagiert, fantasievo­ll im Denken, gerecht und ehrlich sind.

So umstritten wie ADHS selbst sind die Medikament­e, die Kinder in schweren Fällen erhalten, allen voran der Wirkstoff Methylphen­idat, der als Ritalin bekannt wurde. „Das Mittel beeinfluss­t im Gehirn das Dopamin, sodass sich die – wahrschein­lich durch einen relativen Dopaminman­gel verursacht­e – Hyperaktiv­ität normalisie­rt. Es tritt aber kein Beruhigung­seffekt ein, die Kinder werden nicht sediert“, erklärt Leonhard Thun-Hohenstein. Die Einnahme muss ärztlich überwacht werden. Ritalin darf nicht langfristi­g eingenomme­n werden und hat Nebenwirku­ngen auf das Herz-Kreislauf-System, auf Appetit und Schlafqual­ität. Es fällt unter das Betäubungs­mittelgese­tz.

Hannes Bacher ist Facharzt für Psychiatri­e und psychother­apeutische Medizin, Arzt für Allgemeinm­edizin sowie Ärztlicher Leiter der Suchthilfe-Kliniken in Salzburg: „Methylphen­idat gehört zu den Stimulanzi­en, ist ein Amphetamin­abkömmling und hat bei Menschen mit ADHS die paradoxe Wirkung, dass es nicht euphorisie­rend, sondern konzentrat­ionsförder­nd wirkt – aber nur solange man es einnimmt. Die Verhaltens­therapie und die Anpassung der Lebensumst­ände müssen also in der Zeit und danach weitergefü­hrt werden. Amphetamin­e können psychisch abhängig machen. Es gibt Studien, dass sie rasch das Belohnungs­system im Gehirn ankurbeln. Betroffene haben das Gefühl, sie könnten das Leben ohne nicht mehr schaffen.“Manfred Döpfner u. a.: „Ratgeber ADHS“, Hogrefe Verlag. Gerald Hüther u.a.: „Neues

vom Zappelphil­ipp“, Beltz Verlag.

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BILDER: SN/RÜTTEN & LOENING BILD: SN/HOFFMANN

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