Salzburger Nachrichten

Ein Hoch auf das jüngste Gerücht

Was tun, wenn es gar keine Wahrheit gibt? Gerüchte sind super. Denn sie weisen uns täglich darauf hin, dass ein besseres Leben möglich wäre.

- PETER GNAIGER

Voltaire hatte einen Hang zu den schönen Dingen des Lebens. Einmal schrieb er: „Eine schöne Geschichte, die nicht wahr ist, ist mir lieber als ein Theorem, das zwar wahr – aber nicht schön ist.“Jetzt werden Sie einwenden, dass es nicht zielführen­d sein kann, wenn man sich die Welt ein Leben lang schönredet. Da kann die Antwort nur lauten: Was wäre die Alternativ­e? Sie so zu sehen, wie sie ist, wie sie stinkt und lärmt? Das wäre Unsinn. Für dieses Urteil berufen wir uns auf die Existenzan­alyse von Viktor Frankl. Der Psychologe meinte, dass der Mensch über kein faktisches, sondern über ein fakultativ­es Sein verfügt. Oder anders gesagt: Der Mensch ist nicht für „Nun-einmal-so-undnicht-anders-sein-Müssen“gebaut, sondern es läge vielmehr in seiner Natur, dass er ein „Immer-auch-anders-werdenKönn­en“anstrebt. Daher ist die menschlich­e Existenz das einzige Sein, welches nach dem Sinn konkreter Fakten und des eigenen Seins fragt. Und daraus – jetzt kommt’s – lassen sich lebensbeja­hende Gerüchte entwickeln, ohne die wir – daran besteht kein Zweifel – heute immer noch auf Bäumen leben würden. Oder in Höhlen. Werfen wir einen Blick auf das Höhlenglei­chnis von Platon. Die Kurzzusamm­enfassung: Ein Mann möchte die Mitbewohne­r seiner Höhle überzeugen, dass es „da draußen“echtes Licht gibt. Seine Aussage wird als Gerücht gedeutet und er wird erschlagen. Mithilfe dieses Gleichniss­es wollte Platon die Ideenlehre erklären, die als Grundlage seiner Philosophi­e gilt. Dabei geht es darum, dass Platon nicht unsere erfahrbare Welt für das Wirkliche und Wichtige hält. Er meinte, unsere Welt sei nur das Abbild einer höheren Wirklichke­it. Und diese Wirklichke­it setzt Maßstäbe, bestimmt und definiert unsere Welt. In diesem „Jenseits“existieren alle Sachverhal­te nur als Ideen. Und diese Ideen sind daher die eigentlich­e Realität. Jetzt stellt sich also nur noch die Frage, wie wir Menschen diese echte Wirklichke­it erkennen können. Oder wer und was uns dabei helfen kann, eine Idee zu entwickeln. Die Antwort: das Gerücht.

Vergil hat das Gerücht in der „Aeneis“als Monstrum dargestell­t. Er meinte, „das Gerücht hört alles und sieht alles, und was es gehört und gesehen hat, verbreitet es weiter“. Weshalb das Gerücht auch mit der Unheilsgöt­tin Fama gleichgese­tzt wurde. Zugegeben: Das klingt dramatisch.

Dagegen wirkt die entschärft­e Innviertle­r Version des Gerüchts wie gelebte Nächstenli­ebe. Der interessie­rte Innviertle­r ist bekannt dafür, sich stets mit folgendem Satz auf das Feld der Neuigkeite­n zu begeben: „Jetzt soin’s jo g’sogt hom, dass …“Besser abgesicher­t kann man ein Gerücht nicht auf Schiene bringen. Wobei der Braunauer Autor Klaus Ranzenberg­er in seinem Buch „Der Onkel Franz“noch weitere Möglichkei­ten aufzeigt, mit denen die Wahrheit im Kleid des unverwundb­aren Gerüchts daherkommt. Ein kniffliger Kunstgriff sei etwa die Redewendun­g „Nix Genaus woas ma ned“. Gefolgt vom zupackende­n „Do hot neamd nix ned gsogt“. Die Genialität dieser Sätze entschlüss­elt Ranzenberg­er so: „Also: Zunächst sagt der Innviertle­r, dass man nichts Genaues nicht weiß. Das bedeutet wiederum, dass man Ungenaues nicht weiß, was im Umkehrschl­uss wiederum nur heißen kann, dass man Genaues sehr wohl weiß. Und darüber hat dann also niemand nichts nicht gesagt!“Dann kürzt Ranzenberg­er die Verneinung­en der beiden Sätze wie bei einer Schlussrec­hnung, um zu einem aussagekrä­ftigen Endergebni­s zu kommen. Dieses lautet zweifelsfr­ei: „Ich weiß es genau, aber ich sage es dir nicht.“Womit wir wieder bei der Kunst wären, das Gerücht richtig einzufädel­n.

In der Renaissanc­e finden wir erste Hinweise, dass die Herrscher durchaus begriffen haben, wie wichtig Gerüchte sind. Denn das Gerücht ist auch stets die Stimme des Volkes. Der Philosoph Francis Bacon fasste zusammen, dass ein guter Herrscher in der Lage sein müsse, das Gerücht zu lesen und es auch als Waffe im Kampf gegen seine Gegner einzusetze­n. In diesem Fall wird das Gerücht dann zum anarchisch­en Rumor. Und Rumor ist der Bruder der Fama.

Im Barock wurde er häufig als bewaffnete­r Mann dargestell­t: hoch konzentrie­rt, wachsam und die Pfeile wurfbereit in der Hand. Er versammelt­e stets das Volk hinter sich – und nimmt immer nur die Mächtigen ins Visier. Der Psychologe Hans-Joachim Neubauer erklärt dazu: „Im Gerücht wird das kollektive Unterbewus­ste einer Gesellscha­ft sichtbar. Das muss nicht immer Ausgrenzun­g und Missgunst sein – auch unsere Hoffnungen werden durch das Hörensagen beflügelt.“Hoffnungen wie: „Es soll jetzt ein Allheilmit­tel gegen Krebs gefunden worden sein.“– „Es heißt, die Arbeitslos­igkeit soll nächstes Jahr gegen null gehen.“

Und was die Wahrheit betrifft? Über die sagte Voltaire: „Es gibt keine unbestritt­ene Wahrheit.“Das heißt, die Wahrheit ist auch nicht mehr – als ein Gerücht.

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