Ein Hoch auf das jüngste Gerücht
Was tun, wenn es gar keine Wahrheit gibt? Gerüchte sind super. Denn sie weisen uns täglich darauf hin, dass ein besseres Leben möglich wäre.
Voltaire hatte einen Hang zu den schönen Dingen des Lebens. Einmal schrieb er: „Eine schöne Geschichte, die nicht wahr ist, ist mir lieber als ein Theorem, das zwar wahr – aber nicht schön ist.“Jetzt werden Sie einwenden, dass es nicht zielführend sein kann, wenn man sich die Welt ein Leben lang schönredet. Da kann die Antwort nur lauten: Was wäre die Alternative? Sie so zu sehen, wie sie ist, wie sie stinkt und lärmt? Das wäre Unsinn. Für dieses Urteil berufen wir uns auf die Existenzanalyse von Viktor Frankl. Der Psychologe meinte, dass der Mensch über kein faktisches, sondern über ein fakultatives Sein verfügt. Oder anders gesagt: Der Mensch ist nicht für „Nun-einmal-so-undnicht-anders-sein-Müssen“gebaut, sondern es läge vielmehr in seiner Natur, dass er ein „Immer-auch-anders-werdenKönnen“anstrebt. Daher ist die menschliche Existenz das einzige Sein, welches nach dem Sinn konkreter Fakten und des eigenen Seins fragt. Und daraus – jetzt kommt’s – lassen sich lebensbejahende Gerüchte entwickeln, ohne die wir – daran besteht kein Zweifel – heute immer noch auf Bäumen leben würden. Oder in Höhlen. Werfen wir einen Blick auf das Höhlengleichnis von Platon. Die Kurzzusammenfassung: Ein Mann möchte die Mitbewohner seiner Höhle überzeugen, dass es „da draußen“echtes Licht gibt. Seine Aussage wird als Gerücht gedeutet und er wird erschlagen. Mithilfe dieses Gleichnisses wollte Platon die Ideenlehre erklären, die als Grundlage seiner Philosophie gilt. Dabei geht es darum, dass Platon nicht unsere erfahrbare Welt für das Wirkliche und Wichtige hält. Er meinte, unsere Welt sei nur das Abbild einer höheren Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit setzt Maßstäbe, bestimmt und definiert unsere Welt. In diesem „Jenseits“existieren alle Sachverhalte nur als Ideen. Und diese Ideen sind daher die eigentliche Realität. Jetzt stellt sich also nur noch die Frage, wie wir Menschen diese echte Wirklichkeit erkennen können. Oder wer und was uns dabei helfen kann, eine Idee zu entwickeln. Die Antwort: das Gerücht.
Vergil hat das Gerücht in der „Aeneis“als Monstrum dargestellt. Er meinte, „das Gerücht hört alles und sieht alles, und was es gehört und gesehen hat, verbreitet es weiter“. Weshalb das Gerücht auch mit der Unheilsgöttin Fama gleichgesetzt wurde. Zugegeben: Das klingt dramatisch.
Dagegen wirkt die entschärfte Innviertler Version des Gerüchts wie gelebte Nächstenliebe. Der interessierte Innviertler ist bekannt dafür, sich stets mit folgendem Satz auf das Feld der Neuigkeiten zu begeben: „Jetzt soin’s jo g’sogt hom, dass …“Besser abgesichert kann man ein Gerücht nicht auf Schiene bringen. Wobei der Braunauer Autor Klaus Ranzenberger in seinem Buch „Der Onkel Franz“noch weitere Möglichkeiten aufzeigt, mit denen die Wahrheit im Kleid des unverwundbaren Gerüchts daherkommt. Ein kniffliger Kunstgriff sei etwa die Redewendung „Nix Genaus woas ma ned“. Gefolgt vom zupackenden „Do hot neamd nix ned gsogt“. Die Genialität dieser Sätze entschlüsselt Ranzenberger so: „Also: Zunächst sagt der Innviertler, dass man nichts Genaues nicht weiß. Das bedeutet wiederum, dass man Ungenaues nicht weiß, was im Umkehrschluss wiederum nur heißen kann, dass man Genaues sehr wohl weiß. Und darüber hat dann also niemand nichts nicht gesagt!“Dann kürzt Ranzenberger die Verneinungen der beiden Sätze wie bei einer Schlussrechnung, um zu einem aussagekräftigen Endergebnis zu kommen. Dieses lautet zweifelsfrei: „Ich weiß es genau, aber ich sage es dir nicht.“Womit wir wieder bei der Kunst wären, das Gerücht richtig einzufädeln.
In der Renaissance finden wir erste Hinweise, dass die Herrscher durchaus begriffen haben, wie wichtig Gerüchte sind. Denn das Gerücht ist auch stets die Stimme des Volkes. Der Philosoph Francis Bacon fasste zusammen, dass ein guter Herrscher in der Lage sein müsse, das Gerücht zu lesen und es auch als Waffe im Kampf gegen seine Gegner einzusetzen. In diesem Fall wird das Gerücht dann zum anarchischen Rumor. Und Rumor ist der Bruder der Fama.
Im Barock wurde er häufig als bewaffneter Mann dargestellt: hoch konzentriert, wachsam und die Pfeile wurfbereit in der Hand. Er versammelte stets das Volk hinter sich – und nimmt immer nur die Mächtigen ins Visier. Der Psychologe Hans-Joachim Neubauer erklärt dazu: „Im Gerücht wird das kollektive Unterbewusste einer Gesellschaft sichtbar. Das muss nicht immer Ausgrenzung und Missgunst sein – auch unsere Hoffnungen werden durch das Hörensagen beflügelt.“Hoffnungen wie: „Es soll jetzt ein Allheilmittel gegen Krebs gefunden worden sein.“– „Es heißt, die Arbeitslosigkeit soll nächstes Jahr gegen null gehen.“
Und was die Wahrheit betrifft? Über die sagte Voltaire: „Es gibt keine unbestrittene Wahrheit.“Das heißt, die Wahrheit ist auch nicht mehr – als ein Gerücht.