Radikale reinigen das Wasser
Sauberes Trinkwasser ist Mangelware. Forscher prüfen, wie sich die Reinigungskräfte der Natur besser für die Wasseraufbereitung nutzen und mit technischen Lösungen kombinieren lassen.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO trinken zwei Milliarden Menschen Wasser, das durch Fäkalien verunreinigt ist. 500.000 von ihnen sterben jedes Jahr wegen einer Durchfallerkrankung. 2025, so die Prognose, lebt die Hälfte der Erdbevölkerung in Gegenden, die unter Wasserstress leiden. Das sind keine guten Aussichten. Was das Problem noch vergrößert, sind die sich stetig ändernden Bedingungen, mit denen es die Wasserversorger zu tun haben. So schreitet der Klimawandel voran. Zudem werden zunehmend künstliche Schadstoffe im Wasserkreislauf nachgewiesen. Um die Versorgung mit Trinkwasser auf lange Sicht zu sichern, bedarf es einiger Anstrengungen. Mögliche Lösungen dafür stehen im Mittelpunkt des internationalen, von der EU geförderten Forschungsprojekts AquaNES unter Leitung der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
Die Forscher prüfen, wie sich die Reinigungskräfte der Natur besser für die Wasseraufbereitung nutzen lassen. „Untersucht werden Kombinationen von naturnahen und technischen Verfahren“, erklärt Projektkoordinator Thomas Wintgens, Professor für Umwelttechnik an der FHNW. Zu den naturnahen Verfahren gehören Uferfiltration, Grundwasseranreicherung, Pflanzenkläranlagen. Ihnen sind technische Verfahren vor- oder nachgelagert. Dutzende Unternehmen, darunter Hochschulen, Technologiedienstleister und Wasserversorger, beteiligen sich am Projekt. Es gibt elf europäische Versuchsstandorte in der Schweiz, in Berlin, Großbritannien, Frankreich, Holland, Griechenland, Polen, Ungarn, und zwei außerhalb Europas, in Israel und in Indien.
Der Schweizer Versuchsstandort ist das Waldgebiet „Lange Erlen“bei Basel: Die Wasseraufbereitungsanlage dort betreibt das Unternehmen Industrielle Werke Basel (IWB). IWB liefert jährlich 26 Millionen Kubikmeter Trinkwasser für rund 200.000 Menschen in Basel-Stadt. Man bereitet nicht nur Grundwasser auf, sondern auch Oberflächenwasser aus dem Rhein, da die unterirdischen Grundwasservorkommen allein nicht ausreichen.
Das Flusswasser eignet sich jedoch ohne Vorbehandlung nicht zur Trinkwassergewinnung, sondern muss gereinigt werden. Diese Aufgabe übernimmt in einer ersten Stufe ein Sandfilter und danach der Waldboden in den „Langen Erlen“. IWB lässt das Rheinwasser dort in Wässerstellen versickern. Im Boden bauen Bakterien die Verunreinigungen biologisch ab. Dadurch werden natürliche organische Stoffe, aber auch vom Menschen eingeleitete Substanzen wie die Schmerzmittel Ibuprofen oder Diclofenac vermindert. „Doch einige im Wasser enthaltene Schadstoffe entfernt der Waldboden nicht“, sagt Wintgens. Dazu gehören Röntgenkontrastmittel oder Antibiotika. Daher pilotiert die FHNW gemeinsam mit IWB ein Verfahren, das die Schadstoffe per Oxidation entfernen soll, bevor das Wasser auf den Waldboden geleitet wird.
Dazu mischt man dem vorgefilterten Rheinwasser das Bleichmittel Wasserstoffperoxid bei und setzt es starker UV-Strahlung aus. Kommt das Bleichmittel in Kontakt mit UV-Strahlen, entstehen Hydroxyl-Radikale. Und die sind in der Lage, die molekulare Struktur zum Beispiel von Röntgenkontrastmitteln zu verändern. Wintgens: „Beispielsweise entreißt das Radikal manchen Verbindungen ein Wasserstoffatom, bei anderen verbindet es sich mit dem Molekül.“
Zusätzlich kann das UV-Licht selbst manche Verbindungen knacken, etwa Kohlenstoff-Doppelbindungen. Ob die Methode unter annähernd realen Bedingungen klappen könnte, überprüfte man, indem man die Reinigungsprozesse im Waldboden bei behandeltem und unbehandeltem Wasser simulierte.
Die bisherigen Analysen haben gezeigt: Die Oxidation kann einige Schadstoffe im Wasser deutlich reduzieren. So wird der künstliche Süßstoff Acesulfam durch den Oxidationsprozess fast vollständig entfernt. Grundsätzlich wäre das Verfahren damit für den Einsatz im großtechnischen Betrieb nutzbar.
Am indischen Versuchsstandort Haridwar am Fluss Ganges arbeiten deutsche und indische Unternehmen und Forscher zusammen. Dort geht es zwar auch um Trinkwassergewinnung, allerdings gewinnt man das Trinkwasser am Ganges durch natürliche Uferfiltration. Dazu errichtet man am Fluss einen Brunnen und senkt den Grundwasserspiegel künstlich ab. Durch das Gefälle strömt das Oberflächenwasser durch das Flussbett langsam zum Brunnen. Neben dem Uferfiltrat fasst der Brunnen auch einen Anteil des landseitigen Grundwassers.
Bei dem Prozess werden einige Stoffe biologisch abgebaut. Das Wasser muss nach der Bodenpassage jedoch noch desinfiziert werden, was normalerweise durch direkte Zugabe von Natriumhypochlorid geschieht.
Nicht so in Haridwar: Dort läuft die Desinfektion ohne zusätzliche Chemikalien ab. Stattdessen stellt man desinfizierende Chlorverbindungen aus den Salzen, die schon im Wasser vorhanden sind, per Elektrolyse her. Dies tötet dann die Keime im Trinkwasser ab, welches am Ende aus einem Tank entnommen werden kann. Der für den Prozess nötige Strom kommt von Solarmodulen. Das System ist energieautark und für abgelegene Gebiete fernab des Stromnetzes geeignet.
Bei AquaNES untersucht man auch die Wiederverwendung von Abwasser, etwa auf der Kykladeninsel Antiparos. Hier behandeln Pflanzenkläranlagen, also künstlich angelegte Feuchtgebiete, das Abwasser. Der Boden hält dabei Feststoffe, Schwermetalle und Keime zurück und baut die organischen Stoffe weitgehend ab. Das Abwasser kann zur Bewässerung von öffentlichen Grünanlagen oder Feldern verwendet werden.
Wintgens ordnet die Bedeutung des AquaNES-Projekts so ein: „Der jüngste Weltwasserentwicklungsbericht der Vereinten Nationen zeigt, dass die Nutzung naturnaher Verfahren für ein nachhaltiges Management der verfügbaren Wasserressourcen wichtig ist.“In Kombination mit der zusätzlichen Reinigungsleistung technischer Systeme können diese – auch bei den zukünftigen Herausforderungen – einen kostengünstigen Zugang zu sauberem Wasser für alle Menschen ermöglichen.
„Die Nutzung naturnaher Verfahren wird immer wichtiger.“Thomas Wintgens, Umwelttechniker