Salzburger Nachrichten

Ein Agententhr­iller ohne Ende

Vor einem Jahr wurde auf britischem Boden ein Mordanschl­ag auf den Ex-Doppelspio­n Sergej Skripal verübt. Er traf auch seine Tochter und vergiftet bis heute die internatio­nalen Beziehunge­n.

- SN, dpa

Zusammenge­sackt, dem Tode nahe, sitzen Sergej und Julia Skripal am 4. März 2018 auf einer Parkbank im südenglisc­hen Salisbury. In ihren Augen ist nur das Weiße zu sehen, Schaum läuft aus den Mündern. Was nach Drogenmiss­brauch aussieht, entpuppt sich als Agententhr­iller. Die Waffe: das Nervengift Nowitschok, das einst in der Sowjetunio­n hergestell­t wurde. Die Folge: eine internatio­nale Krise und Sanktionen gegen Russland. Die Täter: auf freiem Fuß. Das Motiv: unklar – aber viele Spekulatio­nen.

Die Opfer seien an einem sicheren Ort: „Es ist unsere Verantwort­ung ihnen gegenüber, sie zu schützen“, sagte der britische Botschafte­r in Moskau, Laurie Bristow, der russischen Nachrichte­nagentur Interfax zum Jahrestag. Victoria, die Nichte des Ex-Spions, sagte der Moskauer Zeitung „Komsomolsk­aja Prawda“, dass die Familie kein Lebenszeic­hen habe von den beiden.

Julia meldete sich Ende Mai 2018 das letzte Mal öffentlich zu Wort. An ihrem Hals war in dem britischen TV-Interview eine große Narbe zu erkennen, wochenlang musste sie über einen Schlauch in der Luftröhre beatmet werden. Der Heilungspr­ozess sei „langsam und extrem schmerzhaf­t“gewesen, sagte sie. Sind sie und ihr Vater wieder gesund? Experten zweifeln: Chronische Schäden und Spätfolgen seien bei dem extrem gefährlich­en Nervengift nicht auszuschli­eßen.

Ein Polizist, der als einer der Ersten zum Tatort eilte, musste auch im Krankenhau­s behandelt werden. Monate später der nächste Schock: Eine dreifache Mutter starb qualvoll im Spital an Nowitschok. Ihr Lebenspart­ner hatte einen Flakon mit dem Gift gefunden, das er für Parfüm hielt und ihr schenkte. Experten der Organisati­on für ein Verbot von Chemiewaff­en stellten fest: „Wir haben keinen Zweifel, dass beide Vorfälle miteinande­r zusammenhä­ngen.“

Die idyllische Kleinstadt Salisbury wurde auf den Kopf gestellt. Erst vergangene­n Freitag erklärten Experten sie offiziell für nowitschok­frei. Insgesamt hatten bis zu 800 Spezialist­en zwölf Areale auf Spuren des Nervengift­s überprüft und gesäubert. Besonders im Fokus: das Haus des Ex-Spions; dort war die Substanz auf die Klinke der Haustür gestrichen worden. Skripal war Doppelagen­t des russischen Militärgeh­eimdienste­s GRU und flog 2004 auf. In Russland wurde er zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. Bei einem Gefangenen­austausch kam er 2010 nach England. „Wir haben Angst vor Putin“, sagte Skripal in einem Interview vor dem Anschlag.

In Großbritan­nien hatten in den vergangene­n Jahren mehrere mysteriöse Todesfälle von Exilrussen für Aufsehen gesorgt. 2006 starb unter den Augen der Weltöffent­lichkeit auf seinem Krankenbet­t der frühere russische Geheimdien­stmitarbei­ter Alexander Litwinenko an dem Strahlengi­ft Polonium 210.

Die Reaktion aus Moskau? Immer die gleiche: leugnen. Der Fall Skripal sei „eine in ihrem Ausmaß bisher beispiello­se antirussis­che Kampagne“, meinte die Sprecherin des russischen Außenminis­teriums, Maria Sacharowa. Vor allem die britischen Medien würden das Thema am Köcheln halten. „Die Lage ist wirklich paradox – es gibt immer Nachrichte­n über die Skripals, aber am Ende weiß die Welt nichts über sie oder das Geschehene“, sagte Sacharowa. Es fehlten Beweise. Dabei sehen die Briten den russischen Staat überführt – anhand auch von Videoaufna­hmen der Verdächtig­en, die im Auftrag von Skripals früherem Dienstherr­n GRU gehandelt haben sollen. „Aber wir haben nicht alles öffentlich gemacht, was wir wissen“, sagte Botschafte­r Bristow in Moskau. Das sei am Ende Sache des Gerichts.

Verschwöru­ngstheoret­iker meinen, dahinter könnte ein Komplott westlicher Geheimdien­ste stehen, um Russland nicht zuletzt mit dem Vorwurf, weiter im Besitz von Chemiewaff­en zu sein, ins internatio­nale Abseits zu schieben und mit Sanktionen immer weiter unter Druck zu setzen. Investigat­ive Recherchen auch russischer Journalist­en ergaben aber, dass die Verdächtig­en Alexander Petrow und Ruslan Boschirow in Wahrheit Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga hießen und ranghohe GRU-Offiziere seien. Beide hatten mehrfach Westeuropa besucht – jedoch nur als Touristen, wie sie im russischen Staatsfern­sehen Russia Today behauptete­n.

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BILD: SN/AFP Auf dieser Bank wurden Vater und Tochter Skripal dem Tode nahe gefunden.
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BILD: SN/APA (AFP/ARCHIV)/- Julia Skripal auf einem Archivbild von ihrer Facebook-Seite.
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BILD: SN/APA/AFP/KOMMERSANT PHOTO/YURI SENATOROV Sergej Skripal war in Russland jahrelang in Haft.

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