Die närrische Zeit ist auf dem Höhepunkt
Der bunte Karneval hilft bei der Flucht in eine Welt, in der alles in Ordnung ist. Und es ist auch eine Welt, in der sich alles umkehren kann.
Ob Rio oder Köln: Weltweit feiern die Menschen Karneval. Doch oftmals machte ihnen das Wetter zu schaffen. In Düsseldorf startete der Rosenmontagsumzug mit Verspätung. Die Verantwortlichen ließen eine Schlechtwetterfront wegen einer Sturmwarnung vorbeiziehen. Mancherorts wie in Fulda oder Bottrop wurden die Umzüge ganz abgesagt. Auch in Rio de Janeiro startete die Parade der Sambaschulen wegen heftiger Regenfälle mit einer Verspätung von 45 Minuten. Der Feierlaune tat dies aber keinen Abbruch.
RIO DE JANEIRO. Wann beginnt der Karneval von Rio? Am ersten Sonntag im Jänner, an dem man in einen „bloco“, eine Gruppe des Straßenkarnevals, gerät? Zwei Wochen vor den großen Paraden im Sambódromo Marquês da Sapucaí, an dem eine Gruppe nach der anderen durch die Straßen zieht? Oder am Freitag, an dem „Rei Momo“– ursprünglich eine Figur der griechischen Mythologie, die zum Symbol des Karnevals geworden ist – den Schlüssel der Stadt erhielt? Damit wurde jedenfalls offiziell eines der größten Feste der Welt eröffnet. Zehntausende im Sambódromo und weltweit Millionen vor den TVGeräten verfolgten bis Montag die Umzüge in Rio.
Mit seinen üppigen Formen und überschwänglichen Farben regt der Karneval die Fantasie an. Wenn etwa bei dem Umzug der Sambaschule Viradouro Sonntagabend ein Pirat vorbeifliegt, der Wasser verspritzt. Jede Schule hat ein eigenes Motto und nimmt das Publikum mit in eine andere Welt. Bei der Viradouro ist es eine Märchenwelt mit Piraten und Hexen, Fürsten und Prinzessinnen, einem Geisterbiker und Zaubertränken, wie Tänzerin Joyce erklärt, während sie sich auf ihren Auftritt vorbereitet. Paulo Barros, der Kreativ-Direktor, hat die Geschichte über ein Buch mit fantastischen und mysteriösen Erzählungen geschaffen, das eine Großmutter ihrem Enkel vorliest.
Ein ungeschriebenes Gesetz des Karnevals in Rio besagt, dass die Sambamelodien und Liedtexte der Umzüge im Sambódromo nicht allzu kritisch sein dürfen. Aber nach dem Erfolg im vergangenen Jahr, als die Beija-Flor mit einer Parallele zwischen Frankenstein und den sozialen Problemen des Landes sogar gewann, haben heuer sieben der 14 Sambaschulen kritische Themen bis zu einem Wurm mit Präsidentenschärpe gewählt. Der Umzug der Viradouro jedoch ist „eher verspielt und um sich zu amüsieren“, sagt Joyce. Ihr Körper ist golden angemalt, sie trägt ein knappes, funkelndes Kostüm, das das Gold des Königs Midas repräsentieren soll.
Aber welche Tragödien im Vorfeld auch immer passiert sind, im Karneval amüsieren sich alle trotzdem – oder gerade deswegen. Jedenfalls hilft der Karneval bei der Flucht in eine Welt, in der wie bei Viradouro alles in Ordnung ist.
Und es ist eine Welt, in der laut dem brasilianischen Anthropologen Roberto da Matta alles umgekehrt ist: „Cariocas“, die Einwohner Rios, trotzen dem Regen. Autofahrer halten an, wenn Sambagruppen vorbeiziehen. Männer verkleiden sich als Frauen. Weiße jubeln Schwarzen zu.
Der Karneval ist in Rio de Janeiro wie überall in Brasilien und Lateinamerika dort besonders eindrucksvoll, wo sich katholische Bräuche vor der sechswöchigen Fastenzeit bis Ostern mit der afrikanischen Kultur vermischt haben. Mehr als zwei Millionen Menschen, die aus ihrer afrikanischen Heimat verschleppt wurden, kamen als Sklaven nach Rio.
Der Samba, der im Jahr 2016 seinen 100. Geburtstag feierte, war zunächst verpönt. In den 1940er-Jahren defilierten die Schulen noch auf der Avenida Presidente Vargas. Doch längst hat sich der Karneval zu einem gesellschaftlichen Ereignis und einer touristischen Attraktion entwickelt. Im Sambódromo in Rio kann man die Umzüge von einer der Steinstufen für umgerechnet 2,50 Euro bis zu einer Loge für umgerechnet 500 Euro aus verfolgen. Dort feierte am Sonntagabend etwa auch der ehemalige Fußballspieler Ronaldinho mit Familie und Freunden.
Karneval ist eine organisierte Welt. Am Mittwoch stimmt die Jury ab, am Samstag werden noch einmal die sechs besten Schulen im Sambódromo defilieren. Bald werden diese bereits wieder mit der Planung und Vorbereitung für den nächsten Karneval beginnen. Es ist wohl nicht ganz verkehrt zu sagen, dass in Rio de Janeiro fast das ganze Jahr Karneval herrscht.
„Der Umzug ist eher verspielt und um sich zu amüsieren.“