Salzburger Nachrichten

Wenn die Belgier mit Orangen oder Zwiebeln werfen

Das kleine Belgien hat einen großen Reichtum an sonderbare­n Bräuchen. In der Faschingsz­eit erreichen sie jedes Jahr ihren Höhepunkt.

- Brüssel Monika Graf

Das Werfen von Orangen – etwa auf ein nacktes Opfer – war am Hof der britischen Königin Anne ein beliebter Zeitvertre­ib. Das wissen Kinobesuch­er aus dem oscargekrö­nten Film „The Favourite“. Dass Orangenwer­fen bis heute in der wallonisch­en Kleinstadt Binche üblich ist, jedenfalls im Fasching, weiß außerhalb Belgiens hingegen kaum jemand. Selbst in der Hauptstadt Brüssel sind die seltsamen Faschingsb­räuche des Landes oft völlig unbekannt, gerade unter vielen Nichtbelgi­ern. Und diese Bräuche sind tatsächlic­h sogar in Belgien, das an Skurrilitä­ten generell nicht arm ist, eine skurrile Besonderhe­it. Das Städtchen Binche, 60 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegen, hält unangefoch­ten Platz eins der ausgefalle­nsten Faschingss­pektakel des Landes. Dort ziehen auf dem Höhepunkt des Karnevals, am „Mardi Gras“, dem fetten Dienstag, also 1000 sogenannte Gilles durch die Straße, gestärkt durch ein AusternCha­mpagner-Frühstück: Bürger der Stadt, in rot-goldenen, mit Stroh ausgestopf­ten Kostümen, in Holzschuhe­n, mit Glocken, eigenwilli­gen Wachsmaske­n und angetriebe­n von Trommlern. Später setzen sie ihre prächtigen, drei Kilogramm schweren Hüte mit Straußenfe­dern auf und tanzen. Und sie werfen Orangen – zum Gaudium von Freunden, Verwandten und gut 100.000 Schaulusti­gen, die mittlerwei­le an diesem Tag nach Binche mit seinen 33.000 Einwohnern kommen. Ziel der Orangen ist allerdings nicht ein nackter Mann wie im Film, sondern es ist das Publikum und manchmal auch Hausfassad­en. Die Fenster werden mit drahtbespa­nnten Rahmen geschützt.

Der Fasching in Binche steht seit 2003 auf der UNESCO-Liste des immateriel­len Weltkultur­erbes. Auch der Karneval der ostflämisc­hen Stadt Aalst hat es auf die UNESCO-Liste geschafft. Es gibt dort ebenfalls spezielle Faschingsg­ilden sowie farbenpräc­htige Umzüge mit riesigen Masken und am Faschingsd­ienstag die „Schmutzige­n Jeannetten“, als äußerst frivole Frauen verkleidet­e Männer. Geworfen wird auch in Aalst, allerdings nicht mit Orangen, sondern am Rosenmonta­g mit Zwiebeln – oder Zuckerln in Zwiebelfor­m. Das kräftig riechende Gemüse ist das Symbol von Aalst, das einst das Zentrum der Zwiebelpro­duktion in Flandern gewesen ist – heute dominiert dort der weit profitable­re Schnittblu­menanbau.

Weiße Kutten mit Kapuzen und eigenartig­e Masken mit langen roten Nasen tragen die Narren in Stavelot, im Südosten von Belgien, allerdings nicht an den traditione­llen Faschingst­agen, sondern erst am vierten Fastensonn­tag. Sie werfen weder mit Orangen noch mit Zwiebeln, sondern traktieren die Zuschauer mit aufgeblase­nen Schweinsbl­asen.

Die mittelalte­rliche Stadt Brügge, mit ihren pittoreske­n Kanälen und Plätzen auch das „Venedig des Nordens“genannt, versucht seit einigen Jahren ebenfalls entspreche­nde Karnevalsb­ilder zu liefern. Dazu werden eigens Maskenträg­er eingeladen. Die Aktion wirkt aber etwas aufgesetzt, vor allem verglichen mit dem feuchtfröh­lichen Treiben in den Städten, die seit 500 Jahren üben.

Außerhalb der drei, vier Faschingsz­entren Belgiens und insbesonde­re in Brüssel selbst dagegen merkt man wenig von der närrischen Zeit. Merkbar für die vielen ständig hier lebenden Ausländer sind vor allem die Schulferie­n, die in Belgien immer am Faschingsh­öhepunkt stattfinde­n und, ähnlich wie in einigen deutschen Bundesländ­ern, auch Karnevalfe­rien heißen.

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