Freiheit, Gleichheit, Liederlichkeit
Ein Sozialist macht auf St. Pauli Karriere. Rocko Schamonis neuer Roman spielt mit der Faszination am sündigen Leben der Halbwelt.
Vier Jungs aus Liverpool machen sich daran, die Welt zu erobern. Ihr Debüt „Love Me Do“geht gerade in den britischen Charts durch die Decke. „Nur weil die jetzt EINEN Song haben, heißt das noch lange nicht, dass sie Karriere machen werden“, nörgelt ein Besucher ihres Konzerts im Hamburger StarClub. „Ich glaube nicht, dass die gute Songs schreiben können.“
Der Mann heißt Wolfgang Köhler und irrt selten so stark wie in seiner Einschätzung der Beatles. Vielleicht liegt es daran, dass ihm einst seine Traumfrau Astrid Stuart Sutcliffe, den fünften Beatle, vorzog. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Sozialist und Anhänger der Beat-Literaten einfach den ungeschliffeneren Rock ’n’ Roll bevorzugt: Little Richard oder Gene Vincent, mit dem er als Tourmanager lebensgefährliche Momente erlebt.
Doch was bedeutet schon Lebensgefahr in der Vita von Wolfgang Köhler? Der entflieht dem Realsozialismus der jungen DDR, heuert bei einem Wanderzirkus an, lässt sich mit der Frau des Direktors ein, kommt mit dem Schrecken davon und landet dann auf St. Liederlich, wie die Bewohner von St. Pauli den berühmt-berüchtigten Hamburger Stadtteil nennen.
Wie sich der völlig mittellose junge Mann vom Obdachlosen zu einer prägenden Figur der Rotlichtszene von St. Pauli entwickelt, erzählt Rocko Schamoni in seinem neuen Roman „Große Freiheit“. Es ist für den 53-Jährigen ein lustvoller Retrotrip in eine Ära vor seiner Zeit, in ein St. Pauli vor dessen touristischer Erschließung als Amüsiermeile. Es sind die frühen 1960er, die Bundesrepublik Deutschland ist noch in der Hand alter Nazis, Konrad Adenauer eigentlich schon zu lang im Amt und eine unheilige Allianz aus fanatischen Predigern und Amtsstuben-Sittenwächtern rückt den Straßendirnen und ihren Zuhältern zu Leibe.
Schamoni erzählt das alles mit einer schnörkellosen Geradlinigkeit, die den Leser mit voller Wucht in diese Sittenstudie reinwirft. Ein deutscher Kritiker warf dem Roman „Eindimensionalität“vor. Das zielt an der Intention des Autors vorbei. Schamoni schreibt Texte wie einst Punkmusiker ihre Songs: prägnant, mit heißer Nadel direkt in die Blutbahn injiziert. Schon die Satirekunst des Studio Braun, das Schamoni einst mit den genialen Spießgesellen Heinz Strunk und Jacques Palminger ins Leben rief, lebte von dieser scheinbaren Beiläufigkeit. Im Film „Fraktus“erlebte die kunstvolle Perfektionsverweigerung ihren Höhepunkt, als das Trio eine legendäre Elektroband erfand und diese pseudodokumentarisch zum großen Comeback ansetzen ließ. Ein Heidenspaß, der auch mit der Wissenschaftlichkeit mancher Pop-Exegeten spielt.
Im Falle von Wolli Köhlers Lebensgeschichte ist wohl nicht alles geklaut, wie es der Roman mit all seinen kuriosen Wendungen vermuten lässt. Köhler hat dem Dokumentarfilmer Gerd Kroske seine Lebensgeschichte ausführlich erzählt, auch mit Schamoni sei er bis zu seinem Tod 2017 befreundet gewesen, schreibt dieser. „Dieses Werk ist zum Teil fiktiv, zum Teil basiert es auf wahren Begebenheiten“, heißt es im Nachwort.
Ob Wolli Köhler nun wirklich mit John Lennon und Paul McCartney gemeinsam in einer Holzhütte genächtigt hat – es dürfte wohl bereits der darauffolgende Morgen gewesen sein –, ob sein Vorgesetzter Karl seinem illoyalen Gefährten Ochsen-Harry wirklich die Achillessehne mit dem Schlachtermesser durchtrennt hat, ob Wolli mit geschmuggelten Schmuddelfilmen aus Dänemark die Institution des Porno-Kinos begründet hat, spielt keine Rolle.
Schamoni erzählt gute Geschichten aus einer Halbwelt, die uns Spießbürger fasziniert. Auf Streamingplattformen wie Netflix sprießen Serien über Drogenkartelle in Kolumbien und Mexiko geradezu aus dem Boden. Es sind Stoffe von shakespearehafter Größe, die von Gier und Untreue, verletzter Eitelkeit und gebrochenen Knochen handeln. Niemand will dem moralisch fragwürdig handelnden Protagonisten persönlich begegnen, die Erzählungen von dessen Abenteuern auf der Rasierklinge aber stillen das Verlangen nach sündigem Tun vollends.
Auch Schamonis Roman hat schillernde Figuren wie die Cartacala zu bieten, in die sich ein unscheinbarer Kerl bei Dunkelheit verwandelt und als die er Performances von tierischer Intensität hinlegt. „Lass die Elbe rückwärts fließen!“, sagt dieses abschätzig „Fummeltante“genannte Zwischenwesen. Wenige Wochen später versinkt Hamburg im Jahrhunderthochwasser.
Wolli Köhler ragt aus dem (klein-) kriminellen Milieu heraus, weil er nicht hingehört. Er integriert sich aber schnell, indem er Ehrenkodex und Kunstsprache dieser Halbwelt erlernt. Wenn ihn „Große Freiheit“und Reeperbahn allzu sehr abstoßen, flüchtet er in die „Palette“. In diesem Lokal diskutieren linke Intellektuelle über Kennedy, Schmidt und die neuesten Entwicklungen in der Kunst-Avantgarde. „Will ich das wirklich sein? War das mein Lebensziel – Puffboss werden? Wollte ich nicht eigentlich Künstler sein, Zeichner, Maler, Poet oder Schriftsteller?“, fragt sich Köhler. Die Antwort: „Ich bin dabei.“Fortsetzung dürfte folgen. Dieses Leben gibt noch genügend Stoff her.
„Er rochierte von Rotlicht zu Kunstwelt.“Rocko Schamoni, Autor und Musiker