„Wir reden über vieles, wissen aber immer weniger“
Wie Erkenntnis und Kommunikation aus der Balance geraten sind und die Moderne das Mysterium verloren hat.
Die postmoderne Gesellschaft sei durch einen Überhang von Kommunikation über die Erkenntnis gekennzeichnet. Zu diesem Schluss kommt der Kommunikationswissenschafter Erich Hamberger in seiner Studie „Kommunikation und Erkenntnis“. Demnach unterschieden sich Kulturen unter anderem dadurch, ob der Erkenntnisoder der Kommunikationsaspekt im Vordergrund stehe. „Besonders herausfordernd wird das, wenn in einer Kultur ein gravierender Überhang von einem dieser beiden Aspekte besteht. In diesem Fall kippt die Balance“, sagt Hamberger.
Im Kulturvergleich zeige sich, dass in vormodernen bzw. außereuropäischen Geistestraditionen eine mehr oder weniger ausgewogene Balance zwischen Kommunikation und Erkenntnis vorzufinden sei. In den östlichen Kulturen – in denen ein „unsagbarer Seinsgrund“vorausgesetzt werde – stehe tendenziell der Kommunikationsaspekt im Vordergrund. Dagegen gewinne in den abendländischen Überlieferungen des Judentums und Christentums der Erkenntnisaspekt an Bedeutung, weil diese Kulturen von dem Glauben getragen seien, dass Gott selbst sich in Raum und Zeit dem Menschen mitgeteilt habe.
Mit der neuzeitlichen Moderne kommt es nach Hamberger nun zu zwei „Überlieferungsbrüchen“, die dadurch gekennzeichnet seien, dass jeweils einem der beiden Aspekte ein gravierender Überhang zuerkannt werde. In der abendländischen Moderne sei die Balance vorerst zugunsten der Erkenntnis gekippt. Klassisch stehe dafür das Diktum von Francis Bacon „Wissen ist Macht“. Diesen Vorrang der Erkenntnis habe die europäische Moderne präferiert, indem sie sich zunehmend als wissenschaftsbasierter Religionsersatz begriffen und damit das Mysterium hinter sich gelassen habe. „Heilsgeschichte wurde vom Mythos Fortschritt abgelöst“, sagt Hamberger. Dadurch sei der moderne Mensch unter „Gottwerdungsdruck“(Odo Marquard) geraten. Wo ihm vorher göttliche Hilfe zuteilwurde, war er jetzt allein auf sich selbst zurückgeworfen.
Dieses am autonomen Subjekt orientierte Verständnis von Erkenntnis ist nach Ansicht von Hamberger spätestens um 1900 in die Krise geraten. Stellvertretend dafür stehe der „Vater der Postmoderne“, Friedrich Nietzsche, der sagt, die modernen Erkenntnistheorien seien auf Sand gebaut. Es komme vielmehr darauf an, zu leben, wenn man so will, zu kommunizieren. „Diesen Überhang der Kommunikation führte Georg Simmel in seiner ,Philosophie des Geldes‘ konsequent weiter“, bemerkt Hamberger. Es gebe keine Werte an sich mehr, sondern alle Erkenntnis, alle Werte entstünden im Wechselwirkungsgeschehen des Tausches.
Als Beispiel nennt der Wissenschafter den heutigen Kunstmarkt. Dort werde der Wert eines Werks durch den Markt bestimmt – durch Tausch von Kunst gegen Geld. Es gebe keine Erkenntnis mehr darüber, was ein Werk „wirklich“wert sei.
Die Postmoderne setze demnach primär auf Kommunikation. „Auch wissenschaftliche Erkenntnis dient letztlich vor allem der Kommunikation, sie hat keinen Wert mehr an sich, der uns erkenntnismäßig weiterbringen würde“, sagt Hamberger. Vereinfacht könnte man die Postmoderne damit so charakterisieren: Wir reden über vieles und wissen immer weniger. „Jeder konstruiert sich seine Welt selbst, aber man kann sich nur noch verständigen, nicht mehr verstehen. Man kann sich einen geselligen Abend miteinander machen, ist aber danach so gescheit und einsam wie zuvor.“
Gegen diese beiden Disbalancen von Kommunikation und Erkenntnis bringt der Wissenschafter das dialogische Denken von Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber in Stellung: Der Mensch werde erst durch das Du zum Ich, vermittels eines – menschlicher Macht prinzipiell entzogenen – Dritten. Dieses Dritte sei bei Rosenberg das „Gespräch“, bei Ebner das „Wort“, bei Buber das „Zwischen“. Dadurch entstehe ein gemeinsamer Erkenntnis- und Begegnungsraum, sagt Hamberger. Das weise sowohl über Moderne wie Postmoderne hinaus.