Lauf, Katze, lauf!
Eremit mit Lufthoheit. Der Kranfahrer trägt nicht nur tonnenschwere Lasten von A nach B, sondern auch jede Menge Verantwortung. Schwindelfrei und hitzebeständig sollte er ebenfalls sein.
Ganz dicht kannst du ja nicht sein. Und das ist noch die druckreife Version jenes Gedankens, der dem Lehrling durch den Kopf geistert, als er nach oben blickt. Okay, kann losgehen, sagt der Chef, und beginnt die senkrechte Leiter emporzuklettern, als wäre es ein Spaziergang in der Horizontalen. Kranfahrer, ausgerechnet Kranfahrer wolltest du werden, flucht der Lehrling still in sich hinein. Dann folgt er seinem Chef auf Tritt und Tritt, Sprosse auf Sprosse. Erinnere dich an die Klettergerüste auf dem Spielplatz, zwingt sich der Lehrling. Nur, dass dieses hier offenbar nicht enden möchte. Ein Klettergerüst bis hinauf zu den Wolken. Klingt poetisch, ist aber in der Praxis einfach nur – furchteinflößend. Der Chef ruft aus zehn Metern Höhe irgendetwas den Gestängeschacht hinunter. Kleine Plattform, müsse so sein, wegen Sicherheit am Arbeitsplatz, falls wem schwindlig sei oder so. Na, vielen Dank für den Hinweis, fast hätte ich es vergessen, denkt sich der Lehrling mit einer Prise Sarkasmus.
Und weiter geht’s. Zwölf Meter, sechzehn, zwanzig. Dann wieder eine Plattform. Die Leiter wird plötzlich schräg, und mit einem Mal stehen Lehrling und Meister unter der Fahrerkabine. Der mächtige Drehkranz, der auf dem Turm sitzt, ist mit einer dicken Fettschicht eingeschmiert. Noch ein paar Sprossen, jetzt wieder senkrecht. Der Chef stößt von unten die Bodenplatte der Fahrerkabine auf. So, da wären wir, sagt er, und entschuldigt sich für die Unordnung. Da habe einer nicht zusammengeräumt. Der Lehrling hat andere Sorgen. Mit Höhenangst hat er zwar nichts am Hut – dennoch ist so ein winziges Kabäuschen, das in 26 Metern Höhe auf ein paar Eisenstreben balanciert, eine Herausforderung für Ungeübte. Eng ist es halt für zwei Leute. Verdammt eng. Aber im Normalfall ist man eh allein. Sehr allein, sagt der Chef, und es klingt wie eine Warnung. Einige hätten schon aufgehört, weil es ihnen zu einsam geworden sei. Da könne man sich seine Kabine noch so gemütlich einrichten, mit Kaffeemaschine und sonstigen Annehmlichkeiten. Wenn man für das Eremitendasein nicht geschaffen sei, dann wäre das der falsche Arbeitsplatz. Apropos Platz: Platz für ein Klo ist keiner. Nur so nebenbei.
Der Chef klappt die untere Hälfte der Frontscheibe zum Lüften nach außen und meint: Nehmen S’ Platz, Herr Kollege! Roter Knopf für Aus, grüner Knopf für An, ein dritter, um alles zu verriegeln, für totalen Stillstand. Rechte Hand am Totmann, linke am Steuerhebel – und ab die Post. Ist schon ein Gefühl, wenn sich der 56 Meter lange Ausleger in Bewegung setzt. Womit der Lehrling nicht gerechnet hat: Dass der ganze Kran gehörig zu wackeln beginnt, wenn man bremst. Reine Gewöhnungssache, beruhigt der Chef. Und jetzt fahren wir mit der Laufkatze bis ganz nach vorn. Wie bitte? Die Laufkatze ist das Ding, an dem die Hakenflasche hängt. Alles klar? Kranfahrerfachsprache – ist gar nicht so schwer: Die Laufkatze fährt auf Rollen den Ausleger vor und zurück. An ihr sind Aufhängevorrichtung samt Stahlketten befestigt, um Lasten zu heben und von A nach B zu transportieren. Ohne Laufkatze und Hakenflasche wäre der Kran einfach nur ein überdimensionales Eisengestell, das die Fähigkeit hat, sich zu drehen. Sprich: nutzlos.
Komm, ich zeig dir was, sagt der Meister, und tut etwas, was dem Lehrling ein bisschen das Blut in den Adern gefrieren lässt: Er öffnet eine Luke im Dach der Kabine. Da geht es hinaus auf den Gegenausleger. Das ist jener Teil des Krans, an dem ganz hinten rund 20 Tonnen schwere Betonblöcke hängen, als Gegengewichte. Da raus? Ja, da raus. Denn ein Kranfahrer sitzt nicht nur in seiner Kabine. Er sollte auch nachsehen, ob da oben alles passt. Ob die Seile intakt sind, oder ob es irgendwo nach verbranntem Gummi riecht.
Nur wenn der Windmesser 72 km/h anzeigt, möge sich der Kranfahrer schleunigst nach unten verkrümeln. Freilich nicht, ohne zuvor die Windfreistellung eingeschaltet zu haben. Ist die aktiviert, dann dreht sich der Kran immer so, dass der Wind von hinten kommt. Das lernt man in der Ausbildung. Die dauert 31 Stunden, eine Praxisstunde inklusive. Das sei schon ein bisserl wenig, meint der Chef, und zieht Parallelen zur Bezahlung. Auch die ist dürftig. Leihkranfahrer verdienen 15 bis 16 Euro pro Stunde. Brutto. Das sei unfair, meint der Meister, immerhin trage man in dieser Position eine Menge Verantwortung. Ein guter Kranfahrer könne den Fortschritt auf einer Baustelle deutlich beschleunigen. Er wisse, wo was ist, was wo hingehört und was als Nächstes passiert. Dass sie oft den Ruf eines Hilfsarbeiters genießen, gefällt dem Chef gar nicht.
Ach ja, noch etwas: Die meisten Fahrerkabinen seien noch nicht klimatisiert. Letztes Jahr habe man ein paar Kollegen aus luftiger Höhe bergen müssen, weil sie in der Sommerhitze kollabiert waren. Temperaturen um und über 50 Grad seien keine Seltenheit. Fürs Erste sei das genug, meint der Meister. Er öffnet die Bodenplatte und lässt dem Lehrling den Vortritt. Langsam, Tritt für Tritt. Keine Hektik, schön cool bleiben. Zurück auf dem Boden blickt er ungläubig nach oben. Und lüpft respektvoll seinen Helm.