Bitterer Verlust an Respekt & Gemeinsinn
Darf sich eine Gesellschaft, die immer mehr auf die Starken schaut, darüber wundern, dass immer mehr Menschen die Ellbogen einsetzen?
Es ist höchste Zeit, ein lautes Plädoyer für so gar nicht laute Werte zu verfassen. Für Werte, die viele in unserer Gesellschaft als überholt und gestrig ansehen. Für Werte, die aber jenen festen Kitt schaffen, der unsere Gesellschaft zusammenhält: Respekt (gegenüber dem anderen), Anstand und Verantwortungsgefühl gegenüber dem Gemeinwohl und dem eigenen Lebensumfeld.
Die sozialen Medien wie Facebook oder Instagram zeigen vor, dass der Zeitgeist in die völlig andere Richtung geht. Dort geht es in erster Linie um Selbstinszenierung und Selbstdarstellung. „Ich bin ein Star“– das ist das Motto der Zeit. Und so zweifelhaft überhöht die eigene Darstellung dort ist, so inakzeptabel gnadenlos wird der nicht so Schöne, der Andersdenkende und Andersfühlende niedergemacht. „Der Mensch tendiert dazu, seine eigene Erfahrungswelt zum Maßstab auf die Gesellschaft auszudehnen“, sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann dazu. In weniger hübschen Worten bedeutet das: Der Respekt dem anderen und dem Gemeinwesen gegenüber geht zusehends vor die Hunde.
Man muss aber gar nicht in die sozialen Netzwerke eintauchen, um zu dieser alarmierenden Diagnose zu kommen. Es reicht ein Blick auf die Straßen. Hupende Autofahrer, sich schneidende Boliden, schimpfende und wild gestikulierende Lenker sind an der Tagesordnung. Während die Aggressivität SAMSTAG, 23. MÄRZ 2019 So werden wie Trump . . . wächst, schwindet der Respekt. Mittlerweile braucht es bereits Informationskampagnen, um die Menschen zu ermahnen, dass sie für Einsatzkräfte reservierte Parkplätze nicht zuparken sollen. Dass sie Helfer bei Einsätzen nicht behindern, weil sie Fotos und Videos von Unglücksstellen machen müssen. Und dabei oft gar kein Einsehen mehr besitzen für ihr ignorantes Handeln. Weil sie – siehe Liessmann – ihre Eigenperspektive über jene der Gemeinschaft stellen. Weil sie allgemeingültige Regeln für alle nicht mehr (an)erkennen. Weil sie ihr Recht de facto selbst definieren und Grenzen überschreiten, die die Gemeinschaft per Gesetz oder dank Moral- und Verhaltenskodex definiert hat.
Eine besonders aufsehenerregende Grenzüberschreitung gab es diese Woche in der Altstadt. Bettler wurden gegenüber einem Pater eines Bettelordens handgreiflich. Sie wendeten sich also gegen einen (der wenigen), der sich unverdrossen für sie eingesetzt hat. Eine Zäsur, die unangenehm berührt. Zeigt sie doch, dass auch Nächstenliebe kein ungeteiltes Gut ist. Dass sie an Grenzen stößt, wenn das Gegenüber den Respekt mit Füßen tritt.
Nun sind all die beschriebenen Beobachtungen von wachsenden Grenzverletzungen und respektlosem Verhalten nicht neu. Die Zahl der Gewaltdelikte nimmt statistisch gesehen sogar ab. Und unflätig geredet, geschimpft oder beleidigt wurde auch früher an den Stammtischen. Nur blieb das auf die kleine Runde beschränkt – und entfaltete nicht jenen großen Sog, der dem Respektlosen heute eingeräumt wird.
Das gesellschaftliche Pathos, nur ja nicht zurückzubleiben, seine eigene Position zu behaupten, tut ein Übriges dazu – gerade wenn das wirtschaftliche Fortkommen mühsamer wird. Eine Gesellschaft, die immer mehr auf die Stärksten (Schönsten und Größten) schaut, darf sich nicht wundern, wenn die Menschen den Ellbogen einsetzen – und damit die Selbstverständlichkeit verloren geht, wie man in gewissen sozialen Situationen und Rollen miteinander umzugehen hat.
Und wie schaut es mit dem Respekt gegenüber einem Bürgermeister aus, der wegen grassierender Wahlverweigerung möglicherweise von nur 20 Prozent der Wahlbeteiligten gewählt ist? Ja, auch unsere Demokratie braucht Respekt. Selbst wenn Politiker nicht jene Leistung bringen, die sich viele erwarten: Sich zu verweigern schwächt neben den Politikern uns alle – es schwächt die Demokratie, auf der unser aller Zusammenleben fußt.