DIE ILLUSTRIERTE KOLUMNE
Keine Jahreszeit wird mit größerer Sehnsucht erwartet als der Frühling. Mit dem Längerwerden der Tage steigen die Temperaturen, die Natur erwacht, die Lebensgeister kehren zurück. Die Antike nannte als paradiesische Wetterlage den ewigen Frühling, für die Beobachter der jüngeren Geschichte ist der Frühling die Zeit der gutartigen Revolutionen (die bösen finden im Oktober und November statt). Die Verbesserung frostiger Beziehungen wird von politischen Auguren als Tauwetter bezeichnet. Der Frühling hat ein gutes Image. Zu Unrecht. Die mediterrane Welt kennt als ersten Jahresmonat den März, benannt nach Kriegsgott Mars. Der war zwar auch eine alte Vegetationsinstanz, aber seit augusteischen Zeiten vornehmlich für den Angriffskrieg zuständig.
Auch der Klimawandel erodiert unser Bild vom zauberhaften Frühling, seine hässliche Fratze zieht mal als Vorsommer über Land, mal als Spätwinter, quält Allergiker mit Pollenstürmen, Migräneleidende mit Kopfschmerz, in die Pubertierenden und Libidinösen schießt er das trügerische Serum der Lust. Die Körper und Seelen der Betroffenen antworten mit paradoxer Krankheit: Frühjahrsmüdigkeit. Wäre Mars Psychotherapiepatient, spräche man von bipolaren Episoden. Manische Depression hieß das früher.
Die Antike kannte als Remedium für überschießende Fehlentwicklungen den Brauch des Ver Sacrum, des heiligen Frühlings. Dabei wurde alles Frühlingsgeborene den Göttern geweiht. Die Tiere wurden geopfert, die männlichen Neugeborenen wurden, sobald sie erwachsen waren, als Kolonisten ausgeschickt.
Kommt uns das bekannt vor?