Warum können wir das Gaffen nicht lassen?
Schaulustige behindern Retter. Ein „Blutbeutel-Video“kursiert im Netz. Ein Massenmord wird live mitverfolgt. Was ist los mit uns?
Erste Szene. In Wien überquert eine schwangere Frau mit ihrem Kleinkind an der Hand die Straße. Sie wird von einer Straßenbahn erfasst und zu Boden geschleudert. Mehr als 100 Schaulustige filmen, fotografieren, posten. Und versperren den Rettern den Weg. Die Frau und das Ungeborene sterben, das Kleinkind überlebt.
Zweite Szene. Zwei Langläufer werden in Seefeld bei der nordischen Ski-WM des Dopings überführt. Einer wird mit Blutbeutel auf dem Infusionsständer und Nadel in der Vene gefilmt. Später taucht das Video im Netz auf.
Dritte Szene. In Neuseeland schießt ein Massenmörder unschuldige Menschen über den Haufen. Er filmt seinen feigen Anschlag selbst und überträgt den Horror live auf Facebook. Als die amerikanischen Betreiber der Plattform das tödliche Treiben mitbekommen, ist es bereits zu spät. Das Video wurde bereits Tausende Male angesehen, Millionen haben versucht, eine Kopie davon hochzuladen.
In allen drei Fällen haben wir es mit verschiedenen Ausformungen von Schaulust zu tun. Das Gaffertum feiert fröhliche Urständ. Vor allem die grenzenlose Freiheit des Internets leistet der voyeuristischen Triebbefriedigung unserer Gesellschaft Vorschub.
Neugier und Befriedigung am Leid anderer sind so alt wie die Menschheit. Im alten Rom haben laut Schätzung von Historikern mehr als 300.000 Menschen im Kolosseum vor den Augen eines geifernden Publikums im Kampf gegen blutrünstige Gladiatoren oder wilde Raubtiere ihr Leben gelassen. Von der früheren Neuzeit an bis ins 18. Jahrhundert erfreute sich das Volk an öffentlichen Hinrichtungen von Frauen, die als Hexen verbrannt wurden.
Warum ist das Leid anderer auch heute noch so spannend für uns? Warum sitzen wir stundenlang vor dem Fernseher, wenn CNN live Bilder davon überträgt, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center rast? Nicht weil wir von Geburt an blutrünstig wären. Sondern in erster Linie aus Neugier, aus verschämter Erleichterung darüber, dass es nicht uns selbst erwischt hat, aus Mitleid und Trauer, und, so Psychologen, natürlich auch aus Gründen einer gewissen Selbstbestätigung, weil man als Zeuge von
Die Digitalkonzerne sind nicht allein schuld
dramatischen Ereignissen auch gegenüber anderen einen gewissen Informationsvorsprung hat und damit auch an Bedeutung gewinnt.
In einer zivilisierten Gesellschaft, in der wir leben, stellt sich natürlich die Frage: Was darf man sehen? Und vor allem: Was darf gezeigt werden? Facebook hat vor Einführung der Livetechnologie lang über eine Vorabzensur diskutiert, sie dann aber aus Gründen der angeblich gefährdeten Meinungsfreiheit verworfen. Gäbe es diese Vorabzensur, der Massenmörder von Neuseeland hätte seine Bilder des Grauens nicht veröffentlichen können. Millionen hätten den Unschuldigen nicht beim Sterben zusehen können. Und der türkische Staatspräsident hätte das Video nicht für seine Propaganda gegen Ungläubige missbrauchen können.
Heute muss man dieses Thema noch einmal diskutieren. Es gibt keinen digitalen Mechanismus, der die Übertragung solcher Abartigkeiten erfolgreich verhindert. Sind bereits die Taten als solche verwerflich, ihre Vervielfältigung macht sie größer und beschmutzt die Würde der Opfer noch mehr. Seit Facebook im Frühjahr 2018 die Liveübertragung von privaten Inhalten ermöglicht hat, gab es bereits mehr als drei Milliarden Livestreams. Der Geist ist aus der Flasche. Aber man muss ihm Schranken auferlegen.
Wir selbst müssen uns auch an der Nase nehmen. Es ist zu einfach, die Schuld ausschließlich auf die großen Digitalkonzerne zu schieben, weil sie uns durch ihre moderne Technik das Gaffen in das Auge des Schreckens erst ermöglichen. Es gibt auch so etwas wie Selbstverantwortung.
Der Mensch kann denken. Kommt er zum Unglücksort und erkennt, dass bereits geholfen wird, kann er sich entscheiden und weitergehen. Sieht er die Schlagzeile vom Blutbeutel, muss er nicht auf das Video des völlig verstörten Sportlers klicken. Und geistert ein Film vom Massenmord durch das Netz, kann er es melden. Wer solche Inhalte verbreitet, muss streng bestraft werden.
Es ist schön, in einer Welt der Freiheit zu leben. Wir sind bereit, einiges für sie zu bezahlen. Doch der Preis der Lust am Blut anderer ist eindeutig zu hoch.