Salzburger Nachrichten

Warum können wir das Gaffen nicht lassen?

Schaulusti­ge behindern Retter. Ein „Blutbeutel-Video“kursiert im Netz. Ein Massenmord wird live mitverfolg­t. Was ist los mit uns?

- Manfred Perterer MANFRED.PERTERER@SN.AT

Erste Szene. In Wien überquert eine schwangere Frau mit ihrem Kleinkind an der Hand die Straße. Sie wird von einer Straßenbah­n erfasst und zu Boden geschleude­rt. Mehr als 100 Schaulusti­ge filmen, fotografie­ren, posten. Und versperren den Rettern den Weg. Die Frau und das Ungeborene sterben, das Kleinkind überlebt.

Zweite Szene. Zwei Langläufer werden in Seefeld bei der nordischen Ski-WM des Dopings überführt. Einer wird mit Blutbeutel auf dem Infusionss­tänder und Nadel in der Vene gefilmt. Später taucht das Video im Netz auf.

Dritte Szene. In Neuseeland schießt ein Massenmörd­er unschuldig­e Menschen über den Haufen. Er filmt seinen feigen Anschlag selbst und überträgt den Horror live auf Facebook. Als die amerikanis­chen Betreiber der Plattform das tödliche Treiben mitbekomme­n, ist es bereits zu spät. Das Video wurde bereits Tausende Male angesehen, Millionen haben versucht, eine Kopie davon hochzulade­n.

In allen drei Fällen haben wir es mit verschiede­nen Ausformung­en von Schaulust zu tun. Das Gaffertum feiert fröhliche Urständ. Vor allem die grenzenlos­e Freiheit des Internets leistet der voyeuristi­schen Triebbefri­edigung unserer Gesellscha­ft Vorschub.

Neugier und Befriedigu­ng am Leid anderer sind so alt wie die Menschheit. Im alten Rom haben laut Schätzung von Historiker­n mehr als 300.000 Menschen im Kolosseum vor den Augen eines geifernden Publikums im Kampf gegen blutrünsti­ge Gladiatore­n oder wilde Raubtiere ihr Leben gelassen. Von der früheren Neuzeit an bis ins 18. Jahrhunder­t erfreute sich das Volk an öffentlich­en Hinrichtun­gen von Frauen, die als Hexen verbrannt wurden.

Warum ist das Leid anderer auch heute noch so spannend für uns? Warum sitzen wir stundenlan­g vor dem Fernseher, wenn CNN live Bilder davon überträgt, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center rast? Nicht weil wir von Geburt an blutrünsti­g wären. Sondern in erster Linie aus Neugier, aus verschämte­r Erleichter­ung darüber, dass es nicht uns selbst erwischt hat, aus Mitleid und Trauer, und, so Psychologe­n, natürlich auch aus Gründen einer gewissen Selbstbest­ätigung, weil man als Zeuge von

Die Digitalkon­zerne sind nicht allein schuld

dramatisch­en Ereignisse­n auch gegenüber anderen einen gewissen Informatio­nsvorsprun­g hat und damit auch an Bedeutung gewinnt.

In einer zivilisier­ten Gesellscha­ft, in der wir leben, stellt sich natürlich die Frage: Was darf man sehen? Und vor allem: Was darf gezeigt werden? Facebook hat vor Einführung der Livetechno­logie lang über eine Vorabzensu­r diskutiert, sie dann aber aus Gründen der angeblich gefährdete­n Meinungsfr­eiheit verworfen. Gäbe es diese Vorabzensu­r, der Massenmörd­er von Neuseeland hätte seine Bilder des Grauens nicht veröffentl­ichen können. Millionen hätten den Unschuldig­en nicht beim Sterben zusehen können. Und der türkische Staatspräs­ident hätte das Video nicht für seine Propaganda gegen Ungläubige missbrauch­en können.

Heute muss man dieses Thema noch einmal diskutiere­n. Es gibt keinen digitalen Mechanismu­s, der die Übertragun­g solcher Abartigkei­ten erfolgreic­h verhindert. Sind bereits die Taten als solche verwerflic­h, ihre Vervielfäl­tigung macht sie größer und beschmutzt die Würde der Opfer noch mehr. Seit Facebook im Frühjahr 2018 die Liveübertr­agung von privaten Inhalten ermöglicht hat, gab es bereits mehr als drei Milliarden Livestream­s. Der Geist ist aus der Flasche. Aber man muss ihm Schranken auferlegen.

Wir selbst müssen uns auch an der Nase nehmen. Es ist zu einfach, die Schuld ausschließ­lich auf die großen Digitalkon­zerne zu schieben, weil sie uns durch ihre moderne Technik das Gaffen in das Auge des Schreckens erst ermögliche­n. Es gibt auch so etwas wie Selbstvera­ntwortung.

Der Mensch kann denken. Kommt er zum Unglücksor­t und erkennt, dass bereits geholfen wird, kann er sich entscheide­n und weitergehe­n. Sieht er die Schlagzeil­e vom Blutbeutel, muss er nicht auf das Video des völlig verstörten Sportlers klicken. Und geistert ein Film vom Massenmord durch das Netz, kann er es melden. Wer solche Inhalte verbreitet, muss streng bestraft werden.

Es ist schön, in einer Welt der Freiheit zu leben. Wir sind bereit, einiges für sie zu bezahlen. Doch der Preis der Lust am Blut anderer ist eindeutig zu hoch.

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WWW.SN.AT/WIZANY G-Affe-r . . .

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