Claudio Magris legt ein Mosaik des Lebens Ein buntes Kompendium würdigt einen vergnügten, kritischen und klugen Mitteleuropäer.
Mit kleinen, literarisch notierten Szenen hat Claudio Magris sein jüngstes Buch bestückt. Sie funkeln bunt wie Mosaiksteine, manche eine, manche sechs Seiten lang. Irgendwann, würde er sie fortsetzen, könnten sie ein Bild ergeben, wenngleich nie – außer in unerreichbarer Unendlichkeit – ein eindeutiges. Denn auch wenn Claudio Magris für diese soeben erschienenen Episoden mit dem Titel „Schnappschüsse“bloß Details aus seinem Alltag aufgeklaubt hat, genügen ihm zwei spielende Kinder, ein schweigendes Ehepaar oder ein streitendes Universitätskollegium, um Grundfragen unseres Lebens aufzuspüren und kleine, feine Denkanstöße zu geben.
Was ist Zensur in unserer Demokratie? Dieser Schutzmechanismus für Vaterland, Moral und Ordnung beginnt bei der Korrektur eines Märchens, weil dieses bei der heutzutage unerbittlich religiösen Toleranz unerträglich christlich endet. Folgerichtig schlägt Claudio Magris sarkastisch vor: Auch Brechts Werk müsse von jedem Hauch an revolutionärem Marxismus gereinigt werden sowie Kiplings Bücher von allem britischen Imperialismus, der jeden Inder beleidige.
Oder: Was ist der Sinn des Lebens? „Im Dialog, im Herausgehen aus sich und in der Begegnung mit dem Anderen liegt ja der Sinn des Daseins“, stellt er fest. Oder: Was ist Glück? „Vielleicht nichts anderes als die Hochherzigkeit.“
Doch bei allem Tiefsinn: Hier schreibt ein Vergnügter. Mit viel Humor und einem Bekenntnis zu „genussvollem Leben“verleiht Magris seinen Texten Lust und Leichtigkeit. Er amüsiert sich über die Dame, die zuerst seinen Hund erkennt, um dann dem Autor ins Gesicht zu blicken und festzustellen: „Also dann müssen Sie Claudio Magris sein!“Er wundert sich gemeinsam mit dem komplex theoretisierenden Mathematiker über die unerwartet große Zahl dessen Hörer. Dieser schöpft erst daraus freudiges Selbstbewusstsein, doch dann erfährt er: Fast alle kommen nur, um ihre Plätze zu sichern, weil danach Roland Barthes liest. Und Claudio Magris empört sich über das auf Wunsch von Stalin herausgebrachte Kochbuch, weil damit der gedeckte Tisch, „auf dem Essen und Wein nicht nur zur Nahrung, sondern zur Gemeinschaft von Familie und Freundschaft“würden, missbraucht werde: von einem der mörderischsten Herrscher für eine der brutalsten Ideologien. Claudio Magris warnt: „Gutes Essen hat immer den Mächtigen und ihren Favoriten geholfen, über jene mit leerem Magen zu herrschen.“
Bei aller bedenkenswerten Kritik, die er seinen Zeitgenossen vorhält, beim Enthüllen von Dummheit und Rüdheit oder von subtil subalterner Machtausübung, mit der sich viele Ehefrauen über die Jahre an ihren herrischen Männern rächen, wird nie jemand lächerlich gemacht oder würdelos bloßgestellt. Claudio Magris beherrscht die kostbare, weil so rar gewordene Kunst des höflichen Respekts.
Es sind journalistische Texte nahe am Tagesgeschehen, wie sie in eine Zeitung passen, offensichtlich zusammengestellt anlässlich des im April zu feiernden 80. Geburtstags. So würdigt dieses kleine, bunte Kompendium einen großen Mitteleuropäer.