Beim Sterben lösen sich Raum und Zeit auf
Ein rätselhafter, lang übersehener Künstler hat die „erste Moderne“in Wien begründet. Jetzt ist er zu entdecken.
WIEN. Kann Sterben festlich sein? Der rätselhafte Maler, dem das Kunsthistorische Museum seit Montagabend eine Kabinettausstellung widmet, hat dies jedenfalls so dargestellt: Ans Sterbebett der Nonne kommen edel Gekleidete, offenbar alles Freundinnen, es wird musiziert, für feinen Duft sorgt Weihrauch. Und doch macht jedes Gesicht deutlich: Alle sind traurig.
Diese Sterbeszene erscheint verwandt mit einem Fest: Es ist ein Aussteigen aus dem Allerweltstrubel, ein Zusammenkommen ohne Eile, ein gemeinsames Innehalten. Während für ein gewöhnliches Fest die Alltäglichkeit nur vorübergehend unterbrochen wird, zeigt der „Meister von Heiligenkreuz“genannte Maler eine wundersame Auflösung von Zeit und Raum im Augenblick des Sterbens: Das Bild schildert den Tod der heiligen Klara, Ordensgründerin und Freundin des Franz von Assisi. Die Tröstenden sind – neben Mitschwestern – alles Frauen, die zu anderen Zeiten als Klara gelebt haben: Jene, die ihr Gesicht liebkost, ist von Kunsthistorikern als Maria Muttergottes identifiziert, gefolgt von Katharina (mit dem Rad), Cäcilia (Blumenkranz), Barbara (Turm), Dorothea (Blumenzweig) und am Fußende Margarete.
Auch wenn die Perspektive, wie an der Bettkante zu sehen, ein wenig verzerrt wirkt, hat der Maler exzellent genug gemalt, um eine realistische Szene zu zeigen. Aber offenbar wollte er das nicht. Nicht nur die Personage ist aus der Zeit gefallen, auch Irdisches und Überirdisches – man kann auch sagen: Räume des Körpers und des Geistes – vermag er abzubilden: Rechts und im Vordergrund sind Klaras Zeitgenössinnen, links sind Heilige, also Frauen wie sie, die aber vor ihr gelebt haben. Darüber, im Baldachin und im punzierten Goldgrund, sind Engel; und in einer blauen Himmelsöffnung nimmt Gott die Seele der Sterbenden auf.
Wie verrückt und zugleich grandios hier Zeit und Raum aufgelöst sind, bestätigt der Titel jener Tagung von 11. bis 14. April, die diese Ausstellung begleitet: „Wiens erste Moderne“. Die fand nicht um 1900, sondern ein halbes Jahrtausend zu- vor statt. Von dem um 1400 maßgeblichen Maler, den der Kurator Guido Messling im Katalog als „einen der Gründerväter der Malerei in Wien“würdigt, ist kein Name bekannt. Weil man anhand eines in Stift Heiligenkreuz verwahrten Diptychons, das das Kunsthistorische Museum 1926 erworben hat, auf ihn aufmerksam geworden ist, heißt er „Meister von Heiligenkreuz“.
Auffällig sei dessen „fast exzentrisch zu nennender Stil der Figuren“– „mit ihren sich blasenartig vorwölbenden Stirnen, den spinnenbeinartig langen Fingern und den extrem schlanken Gliedmaßen“, schreibt Guido Messling. Dank frischer Restaurierung sei die „juwelenhaft leuchtende Malerei“besser denn je zu studieren. Wie faszinierend diese Bilder heute noch sind, zeigt die Korona der vom Kunsthistorischen Museum dafür mobilisierten Leihgeber: die National Gallery of Art in Washington und jene in Cleveland sowie das Kunstmuseum Basel. Ausstellung: