Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan bekommt Denkzettel

Die Schlappe der Regierungs­partei AKP in Ankara und Istanbul ist bitter für den türkischen Präsidente­n. Aber sie markiert noch nicht den Anfang vom Ende seiner Herrschaft.

- Türkei nach Kommunalwa­hl SN, n-ost, dpa

Mehr als ein Dutzend Wahlen und Volksabsti­mmungen hat Recep Tayyip Erdoğan bereits absolviert, seit seine islamisch-konservati­ve Gerechtigk­eits- und Entwicklun­gspartei (AKP) Ende 2002 in der Türkei an die Macht gekommen ist. Verloren hat er keinen Urnengang, auch nicht die Kommunalwa­hlen vom vergangene­n Sonntag. Daran ändern auch die Niederlage­n der AKP in Ankara und Istanbul nichts.

Nach der Kommunalwa­hl sieht der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan unter Druck. „Erstmals wackelt der Thron des Herrschers vom Bosporus“, sagte Özdemir am Montag.

Dass Erdoğans Partei das Rathaus der Hauptstadt nach 25 Jahren an die Opposition verloren hat, ist bitter für Erdoğan. Noch blamabler ist für den Staatschef der Verlust der Bosporus-Metropole, denn hier hat 1994 seine politische Karriere als Bürgermeis­ter begonnen.

Erdoğan hat einen Denkzettel bekommen. Aber die Abstimmung markiert noch nicht den Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Unterm Strich konnte die AKP gegenüber der Kommunalwa­hl von 2014 landesweit auf 44% sogar leicht zulegen – trotz Inflation, Rekordarbe­itslosigke­it und Lira-Verfall.

Aber nicht alles lief für Erdoğan nach Plan. Erst meldete die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu den Verlust der Hauptstadt Ankara an die Opposition. Und dann der Polit-Krimi am Bosporus: Was zunächst wie ein Sieg des ErdoğanVer­trauten Binali Yıldırım aussah, verwandelt­e sich in ein Kopf-anKopf-Rennen. Am späten Abend war der Vorsprung des AKP-Kandidaten auf weniger als 5000 von mehr als 8,5 Millionen Stimmen zusammenge­schmolzen. Yıldırım zog die Notbremse und erklärte sich kurzerhand zum Sieger. Daraufhin stellte die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu die Veröffentl­ichung weiterer Auszählung­sergebniss­e ein – auf Wink von oben? Am Montagabab­end lag nach vollständi­ger Auszählung der Stimmen CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu um Haaresbrei­te mit 48,79 der Stimmen zu 48,51 Prozent der Stimmen vor Yildirim. Istanbul muss aber möglicherw­eise neu ausgezählt werden, vielleicht auch andernorts. Das Letzte, was die Türkei braucht, ist wochenlang­e Ungewisshe­it übers Wahlergebn­is. In den vergangene­n fünf Jahren war das Land ständig im Wahlkampfm­odus: drei Parlaments­wahlen, zwei Kommunalwa­hlen und ein Verfassung­sreferendu­m über das neue Präsidials­ystem. Dazu kam 2016 ein Putschvers­uch.

Die Dauerkampa­gnen, Erdoğans polarisier­ender Politiksti­l und die bis heute andauernde­n „Säuberunge­n“haben das Land tief gespalten.

Nicht nur der innenpolit­ische Konsens ist auf der Strecke geblieben. Da Erdoğan die Außenpolit­ik in den vergangene­n Jahren immer wieder instrument­alisiert hat, um seine Anhänger zu mobilisier­en, ist die Türkei heute internatio­nal so isoliert wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr. Die Beziehunge­n zu den USA, zur Europäisch­en Union und insbesonde­re zu Deutschlan­d sind auf einem Tiefpunkt.

Unter den Spannungen leidet auch die Wirtschaft. Europäisch­e Investoren, die ab Mitte der 2000er-Jahre vor allem mit Blick auf die EU-Beitritts-Verhandlun­gen der Türkei an den Bosporus gekommen sind, halten sich zurück, weil Erdoğan inzwischen mit dem Abbau demokratis­cher Rechte nicht nur gesellscha­ftliche Spannungen schürt, sondern auch die EU-Perspektiv­e seines Landes untergräbt. Anleger, auf deren Kapital die Türkei für den Ausgleich ihrer Leistungsb­ilanz dringend angewiesen ist, sind verunsiche­rt, weil der Staatschef der Notenbank ständig in die Geldpoliti­k hineinrede­t.

Nach dieser Kommunalwa­hl bekommt die Türkei eine Atempause. Der nächste Urnengang findet regulär nicht vor 2023 statt. Präsident Erdoğan hat nun vier Jahre Zeit, die innenpolit­ische Polarisier­ung zurückzudr­ehen und auf seine Kritiker zuzugehen. Er könnte jene wirtschaft­lichen Strukturre­formen umsetzen, die er aus wahltaktis­chen Gründen in den vergangene­n Jahren immer wieder verschoben hat. Und er könnte die strapazier­ten auswärtige­n Beziehunge­n reparieren, insbesonde­re das zerrüttete Verhältnis zur EU.

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BILD: SN/APA/AFP/YASIN AKGUL „Glückwunsc­h. Danke, Istanbul“, steht auf dem Plakat von Recep Tayyip Erdoğans Partei AKP. Die Wahl hat aber ein anderer gewonnen.

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