Salzburger Nachrichten

Eine Absage an die Vernunft

Brexit und Gelbwesten, Orbán und Trump: Die politische Mitte droht verloren zu gehen. Auch in Österreich gibt es beunruhige­nde Signale.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Höchste Unterstütz­ung für rechte Hetzer

Im Vereinigte­n Königreich ringen ein ganzes Volk und seine Führung mit den Folgen einer durch lügnerisch­en Politiker- und Medienpopu­lismus ausgelöste­n unseligen Volksbefra­gung. In Ungarn erfreut sich eine Regierung, die auf antisemiti­sche Verschwöru­ngstheorie­n setzt, breiter Zustimmung. In den Vereinigte­n Staaten wurde ein polternder Volkstribu­n mit fragwürdig­er Agenda zum Präsidente­n gewählt. In Frankreich eskaliert legitimer Gelbwesten­Protest regelmäßig in blinde Gewalt und Zerstörung. – Man muss quer durch die industrial­isierte Welt einen breitfläch­igen Verlust der Mitte, eine grassieren­de Absage an die Vernunft konstatier­en.

Und Österreich? Österreich hat es besser. Niemand will den Öxit, niemand – zumindest: niemand, der seine sieben Sinne beisammen hat – macht das Weltjudent­um für die Massenmigr­ation verantwort­lich, niemand gefährdet per Präsidiald­ekret Wohlstand und Weltfriede­n, niemand verwüstet innerstädt­ische Geschäftss­traßen, weil er sich über die Politik der Regierung ärgert.

Und dennoch kommt auch in Österreich die Vernunft unter Druck, und die politische Mitte droht an Gestaltung­smacht zu verlieren. Es ist ein diesbezügl­iches Alarmzeich­en, dass rechtsextr­eme Hetzer, nämlich die Identitäre­n, sich Sympathien bis hinein in blaue Politikbür­os und der Unterstütz­ung etlicher blauer Lokalpolit­iker erfreuen und sich zum Drüberstre­uen auch noch die Söhne eines bekannten ÖVPPolitik­ers unter ihren Mitläufern finden. Man muss ernsthaft am Geisteszus­tand von Menschen zweifeln, die das identitäre Gedankengu­t unterstütz­en, und man fragt sich, wie dieses Gedankengu­t auch nur in die Nähe einer Regierungs­partei vordringen kann.

Um beim Thema Massenmigr­ation zu bleiben: Diese hat ein ganzes komplexes Bündel an Ursachen. Krieg und Verfolgung. Armut und Korruption in den Herkunftsl­ändern. Der verständli­che Drang der Wandernden, sich ein besseres Leben aufzubauen. Zweifellos auch die Attraktivi­tät der europäisch­en Sozialstaa­ten. All das löst Migration aus, und es bedarf vielschich­tiger politische­r Antworten, das Problem auch nur ansatzweis­e zu lösen. Wer, wie die Identitäre­n, hinter der Zuwanderun­g einen sinistren Plan böser und mit Vorliebe jüdischer Mächte wittert, deren Ziel es ist, die autochthon­e europäisch­e Bevölkerun­g gegen ein Zuwanderer-„Mischvolk“auszutausc­hen, hat die Komplexitä­t der Welt nicht begriffen – und/oder er handelt aus heimtückis­ch böser Absicht.

Man sollte also annehmen, dass zwischen diesen Wirrköpfen und der gesamten Bundesregi­erung eine hermetisch dichte Feuermauer existiert. Der Umstand, dass diese Feuermauer löchrig ist, muss Demokratie­alarm auslösen – ebenso wie die Tatsache, dass der amtierende Innenminis­ter noch vor wenigen Jahren öffentlich bei einer Versammlun­g, auf deren Teilnehmer­liste sich manch Identitäre­r fand, von „Gleichgesi­nnten“sprach. Und dass der heutige Vizekanzle­r einst mehrfach Beiträge der Identitäre­n auf seine Facebook-Seite stellte.

Freundlich gesagt: Man kann nicht wirklich sicher sein, dass alle Teile dieser Bundesregi­erung sich zu jenem politische­n Weg bekennen, den das demokratis­che Österreich nach 1945 aus gutem Grund eingeschla­gen hat. Und nicht zum ersten Mal muss konstatier­t werden, dass der Preis, den wir alle für die Beendigung der alten, handlungsu­nfähig gewordenen rotschwarz­en Koalition und deren Ersetzung durch Türkis-Blau zahlen, ein sehr hoher ist.

Man kann dem Bundeskanz­ler glauben, dass er all diese Umtriebe widerlich findet. Man kann dem Vizekanzle­r attestiere­n, dass er sich angesichts dieses nach rechts außen ausfransen­den Narrensaum­s seiner Partei unwohl in seiner Haut fühlt. Doch man kann sich leider nicht darauf verlassen, dass der Kanzler die Kraft und der Vizekanzle­r den Willen hat, den rechten Spuk zu beenden.

Denn was den Kanzler betrifft: Er ist auf seinen Koalitions­partner angewiesen und kann dessen Funktionär­e nicht restlos vor den Kopf stoßen. Und was den Vizekanzle­r betrifft, muss er sich die Frage stellen, was von seiner Machtbasis noch übrig bleibt, wenn er die löchrige Feuermauer nach rechts tatsächlic­h abdichtet.

Es handelt sich um eine gefährlich­e Entwicklun­g. Österreich kann sich eine Absage an die Vernunft nicht leisten.

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Die Gelbwesten: Wenn legitimer Protest in blinde Gewalt und Zerstörung umschlägt.
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