Eine Absage an die Vernunft
Brexit und Gelbwesten, Orbán und Trump: Die politische Mitte droht verloren zu gehen. Auch in Österreich gibt es beunruhigende Signale.
Höchste Unterstützung für rechte Hetzer
Im Vereinigten Königreich ringen ein ganzes Volk und seine Führung mit den Folgen einer durch lügnerischen Politiker- und Medienpopulismus ausgelösten unseligen Volksbefragung. In Ungarn erfreut sich eine Regierung, die auf antisemitische Verschwörungstheorien setzt, breiter Zustimmung. In den Vereinigten Staaten wurde ein polternder Volkstribun mit fragwürdiger Agenda zum Präsidenten gewählt. In Frankreich eskaliert legitimer GelbwestenProtest regelmäßig in blinde Gewalt und Zerstörung. – Man muss quer durch die industrialisierte Welt einen breitflächigen Verlust der Mitte, eine grassierende Absage an die Vernunft konstatieren.
Und Österreich? Österreich hat es besser. Niemand will den Öxit, niemand – zumindest: niemand, der seine sieben Sinne beisammen hat – macht das Weltjudentum für die Massenmigration verantwortlich, niemand gefährdet per Präsidialdekret Wohlstand und Weltfrieden, niemand verwüstet innerstädtische Geschäftsstraßen, weil er sich über die Politik der Regierung ärgert.
Und dennoch kommt auch in Österreich die Vernunft unter Druck, und die politische Mitte droht an Gestaltungsmacht zu verlieren. Es ist ein diesbezügliches Alarmzeichen, dass rechtsextreme Hetzer, nämlich die Identitären, sich Sympathien bis hinein in blaue Politikbüros und der Unterstützung etlicher blauer Lokalpolitiker erfreuen und sich zum Drüberstreuen auch noch die Söhne eines bekannten ÖVPPolitikers unter ihren Mitläufern finden. Man muss ernsthaft am Geisteszustand von Menschen zweifeln, die das identitäre Gedankengut unterstützen, und man fragt sich, wie dieses Gedankengut auch nur in die Nähe einer Regierungspartei vordringen kann.
Um beim Thema Massenmigration zu bleiben: Diese hat ein ganzes komplexes Bündel an Ursachen. Krieg und Verfolgung. Armut und Korruption in den Herkunftsländern. Der verständliche Drang der Wandernden, sich ein besseres Leben aufzubauen. Zweifellos auch die Attraktivität der europäischen Sozialstaaten. All das löst Migration aus, und es bedarf vielschichtiger politischer Antworten, das Problem auch nur ansatzweise zu lösen. Wer, wie die Identitären, hinter der Zuwanderung einen sinistren Plan böser und mit Vorliebe jüdischer Mächte wittert, deren Ziel es ist, die autochthone europäische Bevölkerung gegen ein Zuwanderer-„Mischvolk“auszutauschen, hat die Komplexität der Welt nicht begriffen – und/oder er handelt aus heimtückisch böser Absicht.
Man sollte also annehmen, dass zwischen diesen Wirrköpfen und der gesamten Bundesregierung eine hermetisch dichte Feuermauer existiert. Der Umstand, dass diese Feuermauer löchrig ist, muss Demokratiealarm auslösen – ebenso wie die Tatsache, dass der amtierende Innenminister noch vor wenigen Jahren öffentlich bei einer Versammlung, auf deren Teilnehmerliste sich manch Identitärer fand, von „Gleichgesinnten“sprach. Und dass der heutige Vizekanzler einst mehrfach Beiträge der Identitären auf seine Facebook-Seite stellte.
Freundlich gesagt: Man kann nicht wirklich sicher sein, dass alle Teile dieser Bundesregierung sich zu jenem politischen Weg bekennen, den das demokratische Österreich nach 1945 aus gutem Grund eingeschlagen hat. Und nicht zum ersten Mal muss konstatiert werden, dass der Preis, den wir alle für die Beendigung der alten, handlungsunfähig gewordenen rotschwarzen Koalition und deren Ersetzung durch Türkis-Blau zahlen, ein sehr hoher ist.
Man kann dem Bundeskanzler glauben, dass er all diese Umtriebe widerlich findet. Man kann dem Vizekanzler attestieren, dass er sich angesichts dieses nach rechts außen ausfransenden Narrensaums seiner Partei unwohl in seiner Haut fühlt. Doch man kann sich leider nicht darauf verlassen, dass der Kanzler die Kraft und der Vizekanzler den Willen hat, den rechten Spuk zu beenden.
Denn was den Kanzler betrifft: Er ist auf seinen Koalitionspartner angewiesen und kann dessen Funktionäre nicht restlos vor den Kopf stoßen. Und was den Vizekanzler betrifft, muss er sich die Frage stellen, was von seiner Machtbasis noch übrig bleibt, wenn er die löchrige Feuermauer nach rechts tatsächlich abdichtet.
Es handelt sich um eine gefährliche Entwicklung. Österreich kann sich eine Absage an die Vernunft nicht leisten.