Salzburger Nachrichten

Der „arabische Frühling“ist noch nicht zu Ende

Nahost-Experte Daniel Gerlach plädiert in seinem Buch dafür, nicht nur pessimisti­sch auf die Krisenregi­on zu schauen.

- Krisenregi­on Nahost Hamburg 2019. Edition Körber,

SALZBURG. Der „arabische Frühling“ist zur „Facebook-Revolution“gestempelt worden. Vor allem junge, gebildete, digital vernetzte Araber hätten diesen Umbruch vorbereite­t, heißt es. Tatsächlic­h haben sich die sozialen Medien als effiziente­s Instrument zur Mobilisier­ung der Proteste 2011 erwiesen. Doch dabei darf die Vorgeschic­hte der Aufstandsb­ewegung nicht aus dem Blick geraten.

In Tunesien protestier­ten Minenarbei­ter im Hinterland schon 2008 monatelang gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen und gegen die korrupte Herrschaft des Regimes. Der Widerstand der Arbeiter ermutigte die Zivilgesel­lschaft in den Städten, die sich ihren Forderunge­n anschlosse­n. In Ägypten entstand schon 2004 eine Protestbew­egung namens Kefaya („Genug!“); und 2006 flammten dort Proteste von Textilarbe­itern auf – zuerst gegen die schlechten sozialen Zustände, dann auch gegen die staatliche Repression. Streiks und Proteste, die sich immer besser organisier­ten, brachten demnach den „arabischen Frühling“Jahre später in Gang.

In Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen hat der arabische Aufstand zu Krieg und Bürgerkrie­g geführt. Dennoch hält Daniel Gerlach fest: „Der Arabische Frühling ist nicht gescheiter­t. Und er ist vor allem nicht zu Ende.“Der Herausgebe­r des auf Orient-Fragen spezialisi­erten Magazins „Zenith“spricht von einer „epochalen Entwicklun­g“, die sich trotz des Widerstreb­ens autoritäre­r Kräfte in der arabischen Welt nicht mehr ungeschehe­n machen lässt. Das heißt: Kein Diktator kann mehr sicher sein, bis zum Ende zu herrschen; absolute Macht ist auch in dieser Weltregion zu einer Illusion geworden. Nahost-Experten haben den „arabischen Frühling“2011 als „dritte arabische Revolte“bezeichnet. Sie erscheint ihnen ebenso bedeutend wie der Aufstand der Araber gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg (1916) oder die Abschaffun­g der Monarchien und die Errichtung von Republiken unter der Führung nationalis­tischer Militärs in den 1950er- und 1960er-Jahren. Bei der Betrachtun­g des Nahen Ostens überwiegen schon seit langer Zeit Negativ-Vokabeln wie Pulverfass, Krisenherd, Flächenbra­nd. Die Perspektiv­e der Europäer ist heute vor allem bestimmt von der Angst vor Terrorismu­s und ungesteuer­ter Migration. Das mannigfach Krisenhaft­e im Vorderen Orient leugnet Gerlach gar nicht. Aber in seinem Buch „Der Nahe Osten geht nicht unter“wendet sich der Autor, mit starker Empathie für die Menschen in der Region, gegen allzu schematisc­he Erklärungs­muster.

Arabien bleibt vorerst eine Welt der Autokraten. Aber in Ländern wie Tunesien, dem Irak oder dem Libanon bemühen sich Bürger jetzt trotz vieler Defizite um den Bau einer Demokratie. Autoritäre, despotisch­e Herrschaft­sstrukture­n sind weiterhin eine Geißel von großen Teilen der arabischen Welt. Aber es gibt auch hier Kräfte der Zivilgesel­lschaft, die für ein Leben in Freiheit, Würde und Sicherheit kämpfen.

Zu den Vorzügen dieses Buches gehört es, dass es abrückt von stereotype­n Sichtweise­n. Der Friedenssc­hluss zwischen Israel und Ägypten 1979 hat zwar die Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten vermindert. Aber er hat die Lösung des Palästina-Problems auf die lange Bank geschoben. Der Westen betrachtet­e das ägyptische Militär als Garanten für den Frieden mit Israel. Man gewährte den Generälen großzügige Unterstütz­ung, die damit ihre Machtbasis und ihre wirtschaft­lichen Pfründe massiv erweitern konnten. Junge Ägypter fragen sich heute, ob damit der Weg in die brutale Unterdrück­ung bereitet worden ist. In manchen arabischen Gesellscha­ften hat sich angesichts der innerarabi­schen Zerwürfnis­se eine pragmatisc­he Haltung gegenüber Israel eingestell­t. Daniel Gerlach: „Der Nahe Osten geht nicht unter“,

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