Der „arabische Frühling“ist noch nicht zu Ende
Nahost-Experte Daniel Gerlach plädiert in seinem Buch dafür, nicht nur pessimistisch auf die Krisenregion zu schauen.
SALZBURG. Der „arabische Frühling“ist zur „Facebook-Revolution“gestempelt worden. Vor allem junge, gebildete, digital vernetzte Araber hätten diesen Umbruch vorbereitet, heißt es. Tatsächlich haben sich die sozialen Medien als effizientes Instrument zur Mobilisierung der Proteste 2011 erwiesen. Doch dabei darf die Vorgeschichte der Aufstandsbewegung nicht aus dem Blick geraten.
In Tunesien protestierten Minenarbeiter im Hinterland schon 2008 monatelang gegen schlechte Arbeitsbedingungen und gegen die korrupte Herrschaft des Regimes. Der Widerstand der Arbeiter ermutigte die Zivilgesellschaft in den Städten, die sich ihren Forderungen anschlossen. In Ägypten entstand schon 2004 eine Protestbewegung namens Kefaya („Genug!“); und 2006 flammten dort Proteste von Textilarbeitern auf – zuerst gegen die schlechten sozialen Zustände, dann auch gegen die staatliche Repression. Streiks und Proteste, die sich immer besser organisierten, brachten demnach den „arabischen Frühling“Jahre später in Gang.
In Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen hat der arabische Aufstand zu Krieg und Bürgerkrieg geführt. Dennoch hält Daniel Gerlach fest: „Der Arabische Frühling ist nicht gescheitert. Und er ist vor allem nicht zu Ende.“Der Herausgeber des auf Orient-Fragen spezialisierten Magazins „Zenith“spricht von einer „epochalen Entwicklung“, die sich trotz des Widerstrebens autoritärer Kräfte in der arabischen Welt nicht mehr ungeschehen machen lässt. Das heißt: Kein Diktator kann mehr sicher sein, bis zum Ende zu herrschen; absolute Macht ist auch in dieser Weltregion zu einer Illusion geworden. Nahost-Experten haben den „arabischen Frühling“2011 als „dritte arabische Revolte“bezeichnet. Sie erscheint ihnen ebenso bedeutend wie der Aufstand der Araber gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg (1916) oder die Abschaffung der Monarchien und die Errichtung von Republiken unter der Führung nationalistischer Militärs in den 1950er- und 1960er-Jahren. Bei der Betrachtung des Nahen Ostens überwiegen schon seit langer Zeit Negativ-Vokabeln wie Pulverfass, Krisenherd, Flächenbrand. Die Perspektive der Europäer ist heute vor allem bestimmt von der Angst vor Terrorismus und ungesteuerter Migration. Das mannigfach Krisenhafte im Vorderen Orient leugnet Gerlach gar nicht. Aber in seinem Buch „Der Nahe Osten geht nicht unter“wendet sich der Autor, mit starker Empathie für die Menschen in der Region, gegen allzu schematische Erklärungsmuster.
Arabien bleibt vorerst eine Welt der Autokraten. Aber in Ländern wie Tunesien, dem Irak oder dem Libanon bemühen sich Bürger jetzt trotz vieler Defizite um den Bau einer Demokratie. Autoritäre, despotische Herrschaftsstrukturen sind weiterhin eine Geißel von großen Teilen der arabischen Welt. Aber es gibt auch hier Kräfte der Zivilgesellschaft, die für ein Leben in Freiheit, Würde und Sicherheit kämpfen.
Zu den Vorzügen dieses Buches gehört es, dass es abrückt von stereotypen Sichtweisen. Der Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten 1979 hat zwar die Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten vermindert. Aber er hat die Lösung des Palästina-Problems auf die lange Bank geschoben. Der Westen betrachtete das ägyptische Militär als Garanten für den Frieden mit Israel. Man gewährte den Generälen großzügige Unterstützung, die damit ihre Machtbasis und ihre wirtschaftlichen Pfründe massiv erweitern konnten. Junge Ägypter fragen sich heute, ob damit der Weg in die brutale Unterdrückung bereitet worden ist. In manchen arabischen Gesellschaften hat sich angesichts der innerarabischen Zerwürfnisse eine pragmatische Haltung gegenüber Israel eingestellt. Daniel Gerlach: „Der Nahe Osten geht nicht unter“,