Der Herr Intendant lassen bitten
Vielleicht war es ja gut, dass Christian Thielemann sieben Jahre bei den Osterfestspielen in Salzburg zugewartet hat, um hier sein Herzensstück „Die Meistersinger von Nürnberg“mit der Sächsischen Staatskapelle aufs Programm zu setzen.
Die hellhörige Akustik des Großen Festspielhauses ist nicht mit dem unsichtbaren magischen Bayreuther Graben und auch nicht mit der Dresdner Semperoper vergleichbar. Sie erfordert eine ganz andere Herangehensweise gerade an diese zwischen Pomp und Kammerspiel weit ausgespannte, komplexe und nach den Worten des Dirigenten „scheußlich schwere“Partitur. Jetzt aber haben Thielemann und sein ihm phänomenal folgendes Orchester das heikle Ambiente im Griff, der Dirigent arbeitet akribisch detailliert und auch gestisch mittlerweile mit einem fast minimalistischen Zeichensystem. Und so entfaltet sich, wie am Samstag bei der Premiere erlebbar und mit Begeisterung begrüßt, dieses Werk mit ganz neuen Gewichtungen: atmosphärisch, poetisch, voll leiser, auch melancholischer Komik, menschlicher Tiefe und wunderbar beredt. Thielemann kostet mit untrüglichem Können jede Feinheit aus.
Das ist schon von den ersten Takten des Vorspiels an spürbar. Die emblematischen C-Dur-Strahlen sind wunderbar gebündelt, nie blechgepanzert, sondern herrlich freischwingend geatmet, das Klangpanorama wird bis in filigranste Verästelungen wie mit dem Silberstift gezeichnet, allenfalls duftig aquarelliert. Man hört ungeahnte Details, Holzbläserpointen, schräge Blechtupfer, fast barock trillernde Streicherfiorituren, zwischendrin einen rosenkavalierartigen, chevaleresken Schwung, kontrapunktische Labyrinthe, dazu pianissimo sehrende, sehnsüchtige, aber in keiner Sekunde sentimentale Liebesmomente: ein ganzes Drama wie in der Nussschale.
Danach öffnet sich der Vorhang leider über einer seltsamen Szenerie. Mathis Neidhardt hat für den Regisseur Jens-Daniel Herzog ein Theater im und auf dem Theater entworfen. Die Seiten begrenzen logenbekrönte architektonische Zitate der Dresdner Semperoper, in der Mitte wird der das Werk eröffnende Choral aus der Nürnberger Katharinenkirche wie eine Opernfinalszene zu einem pittoresken Tableau zurechtinszeniert. Später kreist eine von einem Theatervorhang geteilte Drehbühne und simuliert verschiedene Schauplätze in und hinter den Kulissen.
Der Intendant dieses Opernhauses heißt Hans Sachs. Eigentlich ist er ja, wenn man „Die Meistersinger von Nürnberg“spielen würde, wie sie im Büchl stehen, Schuster und Poet dazu. Wenn es – im zweiten Aufzug – unerlässlich ist, weil Wagners Text von einem Schuster bei der nächtlichen Ausübung seines Handwerks erzählt, bindet sich der Opernintendant schnell einen Lederschurz um, spielt kurzerhand Schuster, und die Requisitenkammer ist zu einer Schuhmacherstube umfunktioniert. Ansonsten trägt Hans Sachs legeres dunkelblaues Hemd und Hose, zum offiziellen Anlass auf der Festwiese im Finale Frack, so wie die Meistersinger, die zuerst in grauen Anzügen als biedere Stadtbürger auftreten, etwas spießbürgerlich ihre Smokings angelegt haben (Kostüme: Sibylle Gädeke).
Diese „Theater auf dem Theater“-Setzung geht nicht auf, weil sie sich mit Wagners doch sehr konkretem Text immer wieder unversöhnlich beißt. Im zweiten Aufzug, der eigentlich in einer Nürnberger Straße spielt, kommen die Schauplätze überhaupt so durcheinander, dass sie nachgerade Verwirrung stiften. In dieser Unübersichtlichkeit verliert zuweilen sogar die Musik ihre Spannkraft, auch wenn Christian Thielemann die heiklen Balancen noch so brillant in Schwebe hält, einschließlich eines sagenhaft entspannten und trotzdem straff durchorganisierten Prügelchaos.
Dabei gelingen dem Regisseur im Verlauf der viereinhalb reinen Spielstunden durchaus ungewöhnlich ziselierte Charakterporträts. Selten sieht man die „kleinen“Rollen der Meistersinger so individuell geführt wie hier. Nur ein Beispiel: Unter den strengen Regelwächtern erkennt Kunz Vogelsang (Iurie Ciobanu) schlagartig, dass der um Eva werbende Ritter Walther von Stolzing bei aller emphatischen Freiheit seines Liedes doch zwei passable „Stollen“zusammengebracht hat. Aber er wird, anspielend auf seinen „Vogel“-Namen, von Kollegen sofort unwirsch zurückgepfiffen.
Überhaupt ist die große Dialogszene zwischen Hans Sachs, der in Walther die Zukunft erkennt, welche aber erst noch geschliffen werden muss, und dem „Träumer“Stolzing, ehe er seine „Selige Morgentraum-Deutweise“ erfindet, das szenisch-musikalische Schlüsselerlebnis. Sachs macht hier nämlich seinem „Schüler“begreiflich, dass Regeln nicht Selbstzweck sind, sondern mit Leben erfüllt werden müssen. Dessen wird man sich nur dann bewusst, wenn klar wird, wie sehr Kunst und Leben einander bedingen. An leerer Regelhaftigkeit scheitert ja gerade Sixtus Beckmesser – als „Künstler“und als Mensch. Solche psychologischen Feinheiten arbeitet die Regie präzise heraus, verheddert sich aber in der „Theater-Metapher“so heil- wie harmlos.
Das ist auch insofern schade, weil ausgesuchte Singschauspieler mit exzellentem Gestaltungswillen eingesetzt sind. Sie geben diesen „Meistersingern“, kongruent mit den Ansichten des Dirigenten, überraschende Farben und deutlich aus dem Konversationston eines Singspiels gewonnene Gewichtungen. Alle Stimmen sind leicht, wendig, wortklar und nehmen jenes Filigran wunderbar auf, das Christian Thielemann mit der leuchtenden Transparenz des Orchesters so feinfühlig vorgibt.
Sie sind zentriert um Georg Zeppenfeld, der seinen ersten Sachs abseits aller Rollentypik mit hellkantabler Eleganz, makelloser Diktion und beinahe schwereloser Spannkraft in den fein gestalteten Monologen anlegt, sich zunächst etwas zurückhält, um im Schlussakt umso stärker zu unangestrengter Größe und vor allem herzbewegender Menschlichkeit zu finden: ein ganz eigenes, höchst ungewöhnliches Rollenprofil.
Adrian Eröd liefert als Beckmesser eine genuine singschauspielerische Meisterleistung, verrät die tragikomische Figur in keinem Moment an die Karikatur, bleibt auch in der Verständnislosigkeit seiner Niederlage ein Mensch, den man nicht ausstoßen darf. Klaus Florian Vogt ist mittlerweile ein schier alterslos blonder Walther mit ebensolcher Stimme, was seiner leidenschaftlichen Liedlyrik gerade auch in diesem Umfeld zu neuem Glanz verhilft. Unter den Meistern stechen mit einem ebensolchen Vortragsduktus Vitalij Kowaljow als Veit Pogner und Levente Páll als Kothner hervor. Und Sebastian Kohlhepp gibt bei seinem Rollendebüt einen gar nicht lehrbubenhaften, gleichwohl quirlig-eloquenten David, der fabelhaft ins (Männer-) Ensemble passt.
Problematisch, weil mit den Dimensionen des Hauses nicht unbedingt zurechtkommend, die über lange Strecken fast unhörbar blasse, sich nur sehr langsam frei singende Jacquelyn Wagner als Eva (man kennt sie aus anderen Produktionen als weitaus kräftigere, präsentere Sopranistin) und die eher nur routiniert wirkende Christa Mayer als Magdalene.
Die Chöre aus Dresden und Salzburg (Bachchor) passen sich der Temperatur der Interpretation mit brillant durchsichtigem, agilem Klang an, tragen als vokale Kollektive die vielschichtig gefächerten, detailfreudig durchleuchteten Orchesterstimmen auf der Bühne weiter, um unpathetische, klangsprachlich feingliedrig und vital ausgehorchte „Meistersinger“zu garantieren. Am liebsten wollte man sie gleich wieder von vorn anfangen zu hören.
Herrliche Stimmen, leicht wie fürs Singspiel